Forschungen zum Bewußtsein und
veränderten Bewusstseinszuständen

an der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie
der Medizinischen Hochschule Hannover

von Dr. Torsten Passie

 

Als emergentes Phänomen einer hochentwickelten Hirnphysiologie dient das Bewußtsein in erster Linie der Ermöglichung komplexer zielorientierter Verhaltensstrategien aufgrund einer multimodalen und holistisch integrierten Perzeptionsfähigkeit. Es vermittelt die integrierende Berücksichtigung einer Vielzahl von intra- und intersubjektiven Variablen sowie einer komplexen, die präsente Gegenwart übergreifenden Vielfalt von Umweltvariablen. Das Bewußtsein befähigt zur Widerspiegelung dieser Variablen und ermöglicht über die Schaffung abstrahierter Umweltmerkmale mentale Operationsmöglichkeiten mit neugewonnenen abstrakten Merkmalskategorien.

Da Bewusstsein Merkmale aufweist, die sich auf stark präreflexive Elemente der subjektiven Erfahrung beziehen und zugleich eine neuronale Grundlage als gesichert betrachtet werden darf, erscheinen sowohl auf subjektive Erfahrung fußende als auch naturwissenschaftliche Methoden zu seiner Erforschung legitim. Neuartige Untersuchungsmethoden können der Stoffwechsel des lebenden Gehirns abbilden (Positronen-Emissions-Tomographie (PET), funktionelle Magnetresonanztomographie fMRT)) und damit nähere Aufschlüsse über die funktionell an der Entstehung und Aufrechterhaltung des Bewußtsein beteiligten Hirnstrukturen bzw. hirnimmanenten Prozesse liefern. Eine einzelne anatomische Struktur, an welche Bewußtsein gebunden wäre, konnte jedoch nicht gefunden werden. Auch deshalb wird davon ausgegangen, daß es sich beim Bewußtsein um ein globales Integrations- und Übertragungssystem handelt, welches eine spezifische Synchronisierung großer Verbände von Hirnzellen voraussetzt, um die als Ganzheit erfahrene subjektive Erfahrungswelt zu erzeugen.

Obgleich die physiologischen Grundlagen des Bewußtseins von medi­zinischen Forschern erarbeitet wurden, ist Bewußtsein kein Zentralproblem medizinischer Wis­senschaften, sondern vornehmlich im Bereich von Psychologie und Philosophie zu verorten. Anderes gilt im Forschungsfeld der vielfältigen Zuständlichkeiten des Bewußtseins, der sogenannten „veränderten Bewusstseinszustände“. Diese stellen ein traditionelles Gebiet medizinisch-psychiatrischer Forschung und Expertise dar . Untersuchungen zum Vorkommen veränderter Bewußtseinszustände bei Gesunden zeigen, daß veränderte Bewußtseinszustände ein regelmäßig anzutreffendes Phänomen der menschlichen Erfahrungswelt darstellen. Sie können sogar die machtvollsten psychologischen Phänomene sein, die dem Menschen erfahrbar sind. So kann eine fünfminütige Erfahrung in einem veränderten Bewußtseinszustand (etwa eine religiöse oder eine Nah-Todeserfahrung) die habituelle Ausrichtung, Wertorientierung und den ganzen Lebensweg einer Person gravierend verändern.

Tart (1969) lieferte eine grundlegende Definition veränderter Bewußtseinszustände: „An altered state of consciousness for a given individual is one in which he clearly feels a qualitative shift in his pattern of mental functioning, that is, he feels not just a quantitative shift …, but also that some quality or qualities of his mental processes are different. … the existence of feelings of clear, qualitative changes in mental functioning that are the criterion of ASCs”. Wissenschaftlich lassen sich sowohl subjektive Erlebnisveränderungen als auch begleitende physiologische, neurophysiologische und neuropsychologische Parameter bestimmen.

Aktuelle Forschungsprojekte

An der Abteilung werden Untersuchungen zur Konzeptualisierung und Aufschlüsselung des Phänomens Bewusstsein bzw. der ihm zugrunde liegenden hirnphysiologischen Prozesse durchgeführt. Hier sind sowohl die evolutionsökologischen Entstehungszusammenhänge von Bewusstsein Thema wie auch das komplexe Problem des „Binding“, welches exemplarisch am Wahrnehmungsphänomen der Synästhesien beforscht wird. In verschiedenen Untersuchungen wird seit längerem das die bewusste visuelle Wahrnehmung generierende zentralnervöse System mit dem Paradigma der Hohlmaske untersucht. In Zusammenarbeit mit der Abt. Anästhesiologie wurden Studien über den Bewusstseinsmechanismus des sog. „Self-Monitoring“, d.h. der Diskriminationsfähigkeit gegenüber Fremd- und Eigenreizen, an verschiedenen Arten von Schmerzpatienten durchgeführt. Dabei konnte gezeigt werden, dass Schmerzpatienten diese Diskriminationsfähigkeit einbüßen, was enorme Implikationen für die Schmerztherapie haben könnte.

Zur Thematik der psychophysischen Korrelate von veränderten Wachbewusstseinszuständen werden zur Zeit diverse Forschungsprojekte durchgeführt. Ein Spezifikum unserer Forschungen bilden dabei die Studien zum subjektiven Körpererleben und zu Phänomenen der visuellen Wahrnehmung (Hohlmaskenparadigma, binokuläre Rivalität, Synästhesien, visuelle Formkonstanten).

Nahezu abgeschlossen sind Studien zu physiologischen und psychischen Veränderungen während forcierter Hyperventilation und ihren unmittelbaren Nachwirkungen, die gemeinsam mit der Abt. Anästhesiologie durchgeführt werden. Gefunden wurden u.a. ausgeprägte Bewusstseinsveränderungen, eine starke Gefühlsaktivierung massive Endorphinanstiege und andere ungewöhnliche physiologische Veränderungen. Zudem konnte ein plausibler Wirkmechanismus für die gefundenen Effekte eruiert werden. Die Resultate haben Implikationen für die Behandlung akuter Hyperventilationszustände wie auch therapeutische Anwendungen der Hyperventilation („Pneumokatharsis“).

Studien zu Bewusstseinsprozessen während sexuellen Erlebens, mittels standardisierter und eigens entwickelter Fragebögen, konnten erstmals das Vorliegen veränderter Bewusstseinszustände (gemäß der o.g. Definition) während sexuellen Erlebens nachweisen. Von Interesse dürften auch die überraschend konsistenten Ergebnisse bezüglich unangenehmen Erlebens während partnergebundener Sexualität sein. Der eigens entwickelte Fragebogen zu sexuellem Erleben kann - nach weiterer Validierung - als Standardinstrument für die klinische Erhebung subjektiven sexuellen Erlebens dienen, was von besonderer Bedeutung für aktuelle (neuro-)physiologische Forschungen zur Sexualität ist.

Eine interessante Verbindung zwischen Hyperventilation und Sexualphysiologie stellt das Phänomen der Hyperventilation während des Geschlechtsverkehrs dar. Aufgrund unserer Forschungen ließ sich schlüssig belegen, dass diese Hyperventilationen zu einer tranceähnlichen Vertiefung sexuellen Erlebens dienlich sind; was in zwei einschlägigen Publikationen internationale Beachtung fand.

Einen Schwerpunkt an der Abteilung stellen Untersuchungen zu veränderten Bewusstseinszuständen unter dem Einfluß psychoaktiver Substanzen dar. Hier wurde, in Zusammenarbeit mit der Abt. Anästhesiologie, nach einer Untersuchung von neuropsychologischen und subjektiven Veränderungen unter der Wirkung verschiedener Dosen des Anästhetikums (S)-Ketamin, eine größere Studie zum Vergleich von Ketamin-Razemat und dem neuentwickelten (S)-Ketamin durchgeführt. Diese erbrachte keine signifikanten Unterschiede der Wirkung beider Präparate im Bezug auf neuropsychologische sowie subjektive und objektive psychopathologische Parameter, was Implikationen für die klinische Relevanz des neuentwickelten Präparates haben dürfte. Aktuell in Arbeit befinden sich Forschungen zu subjektiven, physiologischen und neuropsychologischen Wirkungen von Stickoxydul und Psilocybin.

Im Rahmen des skizzierten Projektes zur Erforschung veränderter Bewusstseinszustände beschäftigen sich Abteilungsmitarbeiter neben einer taxonomischen Konzeptualisierung veränderter Bewusstseinszustände mit möglichen therapeutischen Anwendungen von veränderten Bewusstseinszuständen und haben entsprechende Übersichtsarbeiten erstellt. Zukünftig geplant sind klinische Studien zur Evaluierung von psychotherapeutischen Behandlungen, welche durch den gezielten Einsatz veränderter Bewusstseinszustände unterstützt werden.

 

 

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