Veränderte Bewußtseinszustände als Lernprozess:
Der Lehrer P.D. Ouspensky, sein Konzept der Bewußtseinszustände und seine Methode des "Selbst-erinnerns"
Dr. Torsten Passie und Birgit Permantier
 

 



 

 

 

 


G.I.Gurdjieff (1866?-1949)

Das fehlende Bewußtsein: Der Mensch als Maschine?
Der Psychologe und Esoteriker Peter D. Ouspensky wurde 1878 in Moskau geboren und starb 1947 in London. Er beschäftigte sich zeitlebens mit philosophischen und psychologischen Fragestellungen, die um die Möglichkeit einer "wahren" Erkenntnis von Wirklichkeit kreisten. Währenddessen entwickelte er ein System der Bewußtseinserweiterung, das er als "Selbsterinnerung", später auch als "vierten Weg", bezeichnet hat. Ouspensky wurde stark von Georg Gurdjieff, einem sufischen Eingeweihten, dem er um 1915 begegnete, beeinflußt. Beide entwickelten ein psychologisches System, das dem Menschen die Erlangung höherer Bewußtseinsformen ermöglichen sollte. Daß dieses System durch etliche Veröffentlichungen eine schriftliche Fixierung fand, ist ein Widerspruch zur sonstigen sufischen Lehrtätigkeit. So wurde Gurdjiefs Lehre von dessen Lehrern als mit seinem Tode hinfällig bezeichnet. Es käme für den Suchenden darauf an, einen lebendigen Kontakt mit der Lehre herzustellen und sich einen lebenden Lehrer zu suchen. Gleichwohl dürfte ein Einblick in diese bereits "tote“ Lehre für jemanden, der über keinen Kontakt mit der lebendigen Lehre verfügt, von Interesse sein, da sie Ideen enthält, die in dieser Radikalität selten formuliert wurden. Von daher sollen hier einige Grundzüge der Lehre Ouspenskys skizziert werden.
Eine von Ouspenskys Grundannahmen ist, daß der Mensch, so wie wir ihn kennen, ein "nichtvollendetes Wesen" ist (Ouspensky 1988, S.12). "Die Natur entwickelt ihn nur bis zu einem gewissen Grad, dann überläßt sie ihn sich selbst, damit er seine Entwicklung durch eigene Bemühung und Initiative fortsetzt, oder lebt und stirbt wie er geboren wurde" (ebd. S.12). Ouspensky unternimmt eine Unterscheidung psychologischer Systeme, die für ihn durch zwei Hauptkategorien gekennzeichnet sind. In die erste Kategorie fällt die gesamte wissenschaftliche Psychologie seiner Zeit, die sich darum bemüht, den Menschen zu studieren, "so wie er ist - so wie sie ihn antreffen - oder so wie sie annehmen oder sich einbilden, daß er sei." (ebd.S.11)
In die zweite Kategorie fallen Systeme, die den Menschen im Hinblick darauf studieren, was er werden kann. Also Systeme, die den Menschen vom Standpunkt seiner "möglichen Evolution" Ouspensky betrachten. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird diese „Psychologie der potentiellen Evolution des Menschen“ (Ouspensky) durch die humanistische Psychologie vertreten (Lit.1978).
In seinem letzten Werk "Der vierte Weg" wird ein solches System als Quintessenz seines Lebenswerkes dargelegt. Der "Vierte Weg" bezeichnet einen Weg der Erkenntnis, der neben dem ersten Weg (dem des Fakirs, der zu höheren Bewußtseinsstufen gelangt, indem er lernt seine körperlichen Funktionen zu kontrollieren), dem zweiten Weg (dem des Mönchs, der versucht, über den Glauben und Entsagungen höhere Wahrheiten zu erlangen) und dem dritten Weg (dem des Yogis, dem Weg des "Wissens und des Bewußtseins") mehr als eine Synthese dieser drei Wege bezeichnen soll. (Ouspensky 1983, S.112).
Der vierte Weg unterscheidet sich von den anderen Wegen vor allem dadurch, daß nichts Äußeres aufgegeben werden muß, „ ... denn die ganze Arbeit findet innerlich statt" (ebd. S.113). Ein wichtiges Merkmal dieses Weges ist, daß der Mensch, der ihn beschreiten will, nichts glauben muß. Er soll alles anhand eigener Erfahrungen überprüfen; und erst dann glauben, wenn er zutiefst davon überzeugt ist, daß etwas der Wahrheit entspricht. Aus diesem Grund ist es - so Ouspensky - erforderlich, zu einer speziellen Form der Selbstbeobachtung anzusetzen. Dies kann und soll in jeder konkreten Situation, in der der sich der lernwillige Mensch aktuell befindet, beginnen. Als Ergebnis der angefangenen Beobachtung stellt sich nach seiner Erfahrung zuerst folgende bedeutende Erkenntnis ein: "Der Mensch ist eine Maschine. Er hat keine unabhängigen Bewegungen, weder äußerlich noch innerlich. Er ist eine Maschine, angetrieben von äußeren Einflüssen und von äußeren Anstößen. Von sich aus ist er nur ein Automat mit einer gewissen Ansammlung von Erinnerungen vergangener Erfahrungen und mit einer gewissen Menge von Energie ... " (Ouspensky 1988, S.17).
Ouspensky bringt diese schroff wirkende Beschreibung, um seine Zuhörer von Illusionen über ihren Zustand zu befreien. Erst wenn man zu erkennen bereit ist, daß fast alle inneren Vorgänge automatisch ablaufen und erkennt, daß der Mensch auf die meisten seiner inneren Vorgänge (sei es nun Denken, Fühlen, Tagträumen oder Träumen) keinerlei bewußten Einfluß hat und sich dieser schmerzlichen Wahrheit bewußt wird, kann eine Entwicklung möglich werden. Wesentlich ist es zu erkennen, daß die subjektive Einheitlichkeit der Ansammlung von Vorstellungen, Vorannahmen und Modellen, die unser Inneres auszumachen scheinen, eine Illusion ist. Drei Faktoren sind es die im Menschen die Illusion einer Einheit und Ganzheit schaffen: Erstens die Empfindung seines physischen Körpers, zweitens sein feststehender Name und drittens ein Anzahl von mechanischen Gewohnheiten, die durch Erziehung in ihn eingepflanzt und durch Nachahmung erworben werden. "Vor allem soll der Mensch wissen, daß er nicht eine Einheit ist - er ist eine Vielheit ... Dadurch, daß er stets die gleichen physischen Empfindungen hat, sich immer beim gleichen Namen rufen hört und sich in Gewohnheiten und Neigungen wiederfindet, die er immer gekannt hat, bildet er sich ein, stets derselbe zu sein. In Wirklichkeit ist keine Einheit im Menschen, es gibt weder ein alleiniges Befehlszentrum noch ein bleibendes „Ich“ oder Ego. ... Alle Gedanken, jedes Gefühl, jede Empfindung, jeder Wunsch, jedes „ich mag“ oder „ich mag nicht“ ist ein „Ich“. Diese „Ichs“ sind untereinander nicht verbunden noch irgendwie koordiniert ... Einige „Ichs“ folgen anderen ganz mechanisch, einige erscheinen immer von anderen begleitet, aber darin liegt weder Ordnung noch System" (ebd. S.18).
Ouspensky zufolge besitzt der Mensch aufgrund seiner Uneinheitlichkeit keine Fähigkeit zum Tun, keine Individualität, keine Einheit, kein bleibendes Ich, kein Bewußtsein und keinen eigentlichen Willen. Doch nur wenn er dies wirklich erkenne, werde er Anstrengungen unternehmen, diese Fähigkeiten zu erwerben. Die meisten Menschen allerdings bildeten sich ein, diese Fähigkeiten bereits zu haben; was ein wesentliches Hindernis für eine Entwicklung der eigenen Möglichkeiten sei.

Vier mögliche Bewußtseinszustände: Schlaf, Halbschlaf, Selbsterinnern und objektives Bewußtsein


Die wichtigste Fähigkeit, die es Ouspensky zufolge zu entwickeln gilt, ist gleichzeitig diejenige, über die sich der Mensch die meisten Illusionen macht: Das Bewußtsein. Bewußtsein ist nach Ouspensky ... „eine besondere Art von „innerem Aufmerken“, unabhängig vom Denkprozeß, vor allem ein Achtgeben auf sich selbst, eine Kenntnis davon, wer er ist, wo er ist, dann ein Aufmerken auf das, was er weiß und was er nicht weiß und so weiter" (ebd. S.20).
Ob der Mensch bewußt ist oder nicht, kann nur er selbst wissen; es ist von außen nicht ohne weiteres einsehbar. Zudem ist das Bewußtsein nicht konstant: mal ist es größer, mal ist es kleiner, mal ist es anwesend, mal abwesend. Qualität und Quantität des Bewußtseins variieren demnach stark. Diese Tatsache kann von jedem Menschen unmittelbar beobachtet werden. Mittels besonderer Übungen und beim Studium des eigenen Bewußtseins kann die Bewußtseinsfähigkeit beständig gemacht und kontrolliert werden - so Ouspensky. Für ihn steht fest, daß wir uns nur sehr selten unserer selbst wirklich bewußt sind. Wenn ich beispielsweise versuche, den Zeiger einer Uhr zu beobachten und mir gleichzeitig darüber bewußt zu sein, daß ich es bin, die dies tut, und daß ich jetzt hier bin, wird mir dies nicht einmal zwei Minuten lang gelingen; spätestens dann verliere ich die bewußte Empfindung, daß ich da bin (ebd. S.24).

In einer genaueren Darstellung unterscheidet Ouspensky vier Bewußtseinsformen:
1. Der Schlaf.
Es ist der Zustand höchster Identifikation. In diesem ist das Bewußtsein vollständig vom Traumgeschehen absorbiert und wir sind nicht zu aktiven bewußten Handlungsvollzügen in der Lage. Vielmehr sind wir in dem Zustand gewöhnlich vollständig passiv und subjektiv.
2. Der "Wachzustand".
Dieser wird auch als Halbschlaf oder "relatives Bewußtsein" bezeichnet. Es ist dieser wenig von Bewußtsein geprägte Zustand, in welchem sich die meisten Menschen fast ununterbrochen befinden.
3. Das Bewußtsein seiner Selbst, das „Selbst-erinnern“.
In diesem Zustand werden wir uns selbst gegenüber objektiv.
4. Das objektive Bewußtsein.
Über das objektive Bewusstsein - so betont Ouspensky – können wir nichts wissen, da wir zu weit von ihm entfernt sind und die Sprache diesen jenseits aller Kategorien liegenden Zustand nicht fassen kann.
"Doch obwohl er die Möglichkeit hat, diese vier Bewußtseinszustände zu kennen, lebt der Mensch tatsächlich nur in zwei dieser Zustände: Ein Teil seines Lebens spielt sich im Schlaf und der andere im sogenannten „Wachzustand“ ab, der sich in Wirklichkeit nur wenig vom Schlaf unterscheidet" (S. 24). Im dritten Zustand, dem Bewusstsein seiner selbst, von dem wir gemeinhin annehmen, daß wir in ihm leben, erleben wir manchmal bei starken Gemütsbewegungen, in Augenblicken großer Gefahr und selten auch dann, wenn sich nichts "Besonderes" abspielt. Daß wir uns gewöhnlich nicht selbst erinnern, können wir erfahren, indem wir Erinnerungen an verschiedene Situationen miteinander vergleichen und feststellen, daß manche Erinnerungen sehr lebendig sind (Gerüche, Farben, Gefühle, Empfindungen und Gedanken), andere eher blaß erscheinen und wir von manchen Dingen nur noch wissen, daß sie sich ereignet haben, aber uns überhaupt nicht daran erinnern können. Die Erinnerung scheint wie gelöscht zu sein; vermutlich weil das Bewußtsein damals derart von Tagträumen und Phantasien absorbiert war, daß diese Ereignisse keinerlei Erinnerungsspuren im Bewußtsein hinterlassen konnten. Eine bewußte Präsenz des erlebenden Subjekts im Sinne des Selbst-erinnerns hätte dagegen sicher eine Erinnerung erzeugt.
Eine Bewußtheit seiner selbst im Sinne des Selbsterinnerns entsteht also zuerst meist zufällig und nur kurzzeitig. Die Kontrolle darüber zu erlangen und das Bewußtsein seiner selbst absichtlich zu erwirken, ist das Ziel des psychologischen Systems von Ouspensky. Eine weitere Voraussetzung für die Erlangung des Selbsterinnerns wie auch des objektiven Bewußtseins ist es, die Bedingungen zu studieren, welche das Selbsterinnern verhindern. Auch in diesem Fall betont Ouspensky, daß die Selbstbeobachtung das Instrument der Er-kenntnis- ist, welches durch keine andere Art des Studiums ersetzt werden kann.

Hindernisse der Bewußtseinsentwicklung


Die wichtigsten Hindernisse, die der Bewußtseinsentwicklung entgegenstehen können, sind gemäß den Beobachtungen und Erfahrungen Ouspenskys:
1. Das Lügen.
Das Lügen möchte er nicht im moralischen Sinne verstanden wissen - ein "absichtliches" Lügen ist hier nicht gemeint -, sondern Lüge heißt hier „ ... von Dingen, die man nicht kennt, die man nicht kennen kann, so zu sprechen, als ob man sie kennen kann, so zu sprechen, als ob man sie kennen würde und als ob man sie kennen könnte" (ebd. S. 50).
Er weist darauf hin, daß bei den meisten Menschen diese Art des „Lügens“ automatisiert abläuft. So wissen wir Ouspensky zufolge nichts über uns selbst und wissen auch, daß wir nichts wissen, sondern uns lediglich Ansichten und Modelle über uns selbst einbilden. "Dennoch erkennen wir diese Tatsache niemals an oder geben sie zu; wir gestehen sie noch nicht einmal uns selbst gegenüber ein, wir handeln, denken und sprechen, als wüssten wir, wer wir sind: das ist der Ursprung, der Anfang des Lügens" (Ouspensky 1983, S. 42).
Der Begriff "Lüge" bezeichnet hier also einen Automatismus, der sich in erster Linie auf die Art und Weise bezieht, in der wir uns und den Umfang unseres Wissens über die Welt betrachten. Schon wenn ich "Ich" sage belüge ich mich selbst, denn im Halbschlafzustand gibt es in dem, was ich als „Ich“ bezeichne, keine Einheit und somit auch nichts Kohärentes, was ich mit dem Begriff „Ich“ bezeichnen könnte. Diese Art des Lügens bezeichnet Ouspensky in seinem Buch „Der vierte Weg“ auch als „Erkenntnispuffer“ (ebd. 1983, S. 45), der dazu diene, mit unvereinbaren Widersprüchen leben zu können.

2). Die Einbildung.
Wenn ich mich selbst beobachte, bemächtigt sich meiner nach einiger Zeit die Einbildung und ich vergesse die Beobachtung. Für die Selbstbeobachtung ist die Einbildung also keineswegs schöpferisch. Deshalb erkennt ein sich selbst beobachtender Mensch, " ... daß er sie [die Einbildung] in keiner Weise kontrollieren kann, und daß sie ihn immer weit fortführt von seinen mehr bewußten Entscheidungen und zwar in eine Richtung, in die er nicht gehen wollte" (Ouspensky 1988, S. 51). Das Verfallensein an diese Einbildung ist für Ouspensky der Normalzustand des nicht im Selbsterinnern befindlichen Menschen.

3). Das Ausdrücken negativer Gefühle.
Dies ist für Ouspensky ein weiteres Hindernis bei der Bewußtwerdung. Negative Gefühle wie etwa Selbstmitleid, Zorn, Angst, Mißtrauen, Eifersucht und andere sind seiner Ansicht nach nicht nur vollkommen überflüssig, weil sie uns nicht mit nichts Neuem verbinden und uns keine Energie einbringen, sondern sie vielmehr durch ihren Ausdruck verschwendet wird. Zudem erzeugen wir so unangenehme Illusionen, die in die Zukunft hineinprojiziert (und in ihrem Ausdruck Auto-matisierungs-prozessen unterworfen), letztlich sogar unsere psychische und körperliche Gesundheit angreifen können. Deshalb sollen negative Gefühle nicht nur beobachtet, sondern ihrem automatischen Ausdruck aktiv Widerstand entgegengesetzt werden. Der erste Schritt dazu ist, dass man sie erkennt und aufrichtig realisiert, daß sie nutzlos sind (Ouspensky 1983, S. 19-23 u. S. 81-85).
Negative Gefühle haben nach Ouspensky ihre Ursache ausschließlich in uns selbst. Wir kreieren sie. Es gibt keine Umstände, die sie erzeugen. Wenn wir etwa in einem angstvollen Zustand sind, suchen wir uns Gegenstände und Menschen, vor denen wir Angst haben, mit denen wir unsere Angst identifizieren können. Die Ursache der Angst liegt jedoch ausschließlich in uns selbst und ist daher niemals außen, sondern nur in unserem Inneren zu beseitigen.
Es wäre ein Mißverständnis anzunehmen, Ouspensky plädiere für eine simple Unterdrückung negativer Gefühle, denn letztlich geht es um eine Verwandlung dieser Gefühle.

4) Das Reden.
Nicht zuletzt werden Sebstbeobachtung und schrittweise Bewußtwerdung durch unnötiges Reden (gemeint ist hier in erster Linie der „innere Monolog“) beeinträchtigt. Denn wer permanent mit sich oder anderen redet, kommt ständig von der Selbstbeobachtung ab.

5) Die Identifikation.
Durch fortschreitende Selbstbeobachtung wird entdeckt, daß wir uns mit Wahrnehmungen, Gegenständen, inneren und äußeren Vorgängen, mit Gefühlen und Gedanken stark zu identifizieren neigen. "Die ‚Identifizierung‘ ist ein merkwürdiger Zustand, in dem der Mensch mehr als die Hälfte seines Lebens verbringt. Er ‚identifiziert‘ sich mit allem: mit dem, was er sagt, mit dem, was er weiß, mit dem, was er glaubt, mit seinen Begierden, mit dem, was ihm nicht erwünscht ist, was ihn anzieht und was ihn abstößt. Alles saugt ihn auf, und er ist nicht fähig, sich von der Idee, von dem Gefühl oder dem Gegenstand zu trennen, der ihn verschlingt. Dies besagt, daß der Mensch im Zustand der Identifizierung unfähig ist, den Gegenstand seiner Identifizierung unparteiisch zu betrachten“ (Ouspensky 1988 S. 53). Ein wesentliches Merkmal des Halbschlafzustandes, in dem sich die meisten Menschen - Ouspensky zufolge - befinden, ist in der Tendenz zur Identifikation zu sehen, die eine der bedeutendsten Ursachen ist, welche den Menschen am Erwachen hindert. Denn wenn wir identifiziert sind, können wir nicht beobachten; und wenn wir uns nicht beobachten können, fällt uns auch nicht auf, daß wir uns in dem besagten Halbwachzustand befinden. "Es ist unmöglich bewußt zu sein, wenn Sie sich identifizieren" (ebd. S. 145).
Schlussfolgernd lässt sich festhalten, dass Lüge, Einbildung, Ausdruck negativer Gefühle und unnötiges Reden durch ihr weitgehend automatisiertes Funktionieren ein Verharren im Halbschlafzustand begünstigen, den es durch schrittweise Beobachtung und Bewußtmachung dieser Automatismen zu überwinden gilt.

Selbsterinnern als Überwindung des Halbschlafzustandes


Wie bereits erwähnt, ist die Erkenntnis, daß die meisten unserer Gedanken und Handlungen automatisiert ablaufen, wir weitestgehend identifiziert sind und nur in seltenen Momenten unserer selbst gewahr werden, eine erste Voraussetzung zur Entwicklung. Es stellt sich dann die Frage: Wie kann ich bewußter werden?
Dazu ist es zuerst einmal wichtig, Momente des Selbsterinnerns zu finden und sie mit anderen nicht-bewußten Zeiträumen zu vergleichen. Ein nächster Schritt wäre, sich nach einer abgeschlossenen Handlung (z.B., nachdem ich diesen Absatz gelesen habe) zu fragen: "War ich während dieser Handlung bewußt - mir also gewahr, daß ich bin und wo ich bin - oder nicht?" Was einen bewußten Moment ausmacht, kann nicht einfach beschrieben werden: Nur der Erlebende kann diesen Unterschied bei sich feststellen. Das Phänomen ähnelt einer Art geteilter Aufmerksamkeit: "Aber wenn sie zur selben Zeit, in der Sie beobachten, bewußt sind, wird die Richtung ihrer Aufmerksamkeit zwei Pfeilen ähneln, von denen der eine die Aufmerksamkeit zeigt, die auf den Gegenstand der Beobachtung gerichtet ist, und der andere auf sie selbst" (ebd. S. 123).
Wenn man erkennt, daß man sich gewöhnlich nicht selbst erinnert, kann so etwas wie Selbst-erinnerung langsam ermöglicht werden. "Wenn die Erkenntnis, daß wir uns nicht Selbst-erinnern, stetig wird, dann können wir uns selbst erinnern. Jeden Tag können sie Zeit zu der Erkenntnis finden, daß Sie sich nicht Selbst-erinnern; das wird Sie schrittweise zum Selbst-erinnern führen. Ich meine nicht, sich zu erinnern, daß sie sich nicht selbst-erinnern, sondern es zu erkennen" (ebd. S. 125). Eine überaus wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Methode des Selbsterinnerns spielen die Gedanken. So sind die Gedanken bzw. die "Denkfunktion" eine der wenigen geistigen Funktionen, über die wir eine gewisse Kontrolle erlangen können. Wenn wir die Gedanken darauf richten, uns beständig daran zu erinnern, daß wir sind und wo wir sind, wird Selbst-erinnern möglich. Wenn ich beispielsweise augenblicklich bemerke, daß ich mich identifiziere, kann ich mich Kraft einer Gedankenanstrengung vielleicht aus der Identifizierung lösen. Allerdings ist das Verhältnis von Denken und Selbsterinnern nicht einfach zu beschreiben: "Denken ist ein mechanischer Vorgang, es kann ohne oder mit sehr wenig Bewußtsein arbeiten. Und Bewußtsein kann ohne einen wahrnehmbaren Gedanken existieren" (ebd. S.130).
Demnach kann man sich im Bemühen um Selbsterinnerung nicht auf die "Denkfunktionen" verlassen, da die Gefahr droht, dabei wiederum Opfer von Automatisierungsprozessen zu werden.
Deshalb besteht eine Übung, die zu Selbsterinnerung führen kann, in dem Versuch, die ständige Gedankenbildung anzuhalten. Dies ist jedoch ausge-sprochen schwierig, da nur allzu oft die Automatismen der Gedankenbildung wieder einsetzen. „Sie können die Gedanken anhalten, aber sie dürfen nicht enttäuscht sein, wenn es ihnen anfangs nicht gelingt ... Sie können sich nicht sagen: „Ich will meine Gedanken anhalten“, und sie hören auf. Sie müssen sich die ganze Zeit anstrengen. Deshalb dürfen sie es nicht lange tun. Es reicht vollauf, wenn sie es für wenige Minuten tun, sonst werden Sie sich selbst überreden, Sie täten es, während Sie einfach ruhig dasitzen und denken und sehr glücklich darüber sind“ (Ouspensky 1991, S. 133).
Fest steht, daß die Entwicklung des Bewußtseins eine große Anstrengung erfordert. Die Voraussetzung dazu ist, daß ein fester Entschluß gefaßt wird, aus dem Halbschlafzustand zu erwachen. Um diesen Entschluß fassen zu können und sich auf diesen anstrengende Weg zu begeben, ist es erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, welchem Zweck diese Arbeit dienen soll. „Wenn wir Willen haben, wenn wir frei sein möchten, anstatt Marionetten zu sein, wenn wir erwachen wollen, müssen wir Bewußtsein entwickeln. Wenn wir erkennen, daß wir schlafen, daß alle Menschen schlafen, und was das bedeutet, werden dadurch alle Absurditäten des Lebens geklärt. Es ist ganz klar, daß die Menschen, wenn sie schlafen, nicht anders handeln können, als sie es jetzt tun“ (ebd. S. 131).
Ouspensky behauptet weiter, wenn wir nur einmal für etwa 15 Minuten bewußt wären, könnten wir die Welt mit völlig neuen Augen betrachten.
Nichts scheint so schwierig wie einen automatisierten Prozess als solchen zu identifizieren und zu entautomatisieren. Kaum etwas ist so schwierig wie sich aus einer Identifikation, und sei sie auch noch so winzig - wie etwa das Kleben der Aufmerksamkeit auf der Mattscheibe eines Fernsehers oder einer Kinoleinwand - dauerhaft aufzuheben. Wenn dies gelingt, dann anfangs nur für Sekunden und schon lassen wir wieder zu, daß das Bewußtsein von äußeren oder inneren Geschehnissen absorbiert wird. Einen Seinszustand frei von diesen Attributen zu erlangen ist das Ziel, welches Ouspensky in Aussicht stellt ...
Literaturverzeichnis
1. Ouspensky, P.D. (1983): Der vierte Weg.
Basel 1983 [orig. 1957].
2. Ouspensky, P.D. (1980): Tertium Organum.
Bern/München 1980 [orig. 1911].
3. Ouspensky, P.D. (1988): Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen. Berlin 1988 [orig. 1950].
4. Ouspensky, P.D. (1970): Ein neues Modell des Universums.
Weilheim 1970 [orig. 1931].


Links zum Thema:
http://www.gurdjieff-movements.net
http://www.gurdjieff-internet.com
http://www.fourthway.info
http://www.gurdjieff.org







 

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