Bewußtsein und veränderte Bewußtseinszustände
von Dr. Torsten Passie
 
„... Dass unser normales Wachbewußtsein, rationales Bewußtsein wie wir es nennen, nur eine bestimmte Art von Bewußtsein ist, während um es herum, abgeteilt nur durch eine hauchdünne Scheidewand, potentielle Formen des Bewußtseins liegen, die ganz andersartig sind. Wir mögen durchs Leben gehen, ohne ihre Existenz zu ahnen, sobald jedoch der erforderliche Stimulus angewendet wird, sind sie mit einem Schlag in all ihrer Vollständigkeit da; wohlbestimmte Typen der Mentalität, welche sicher irgendwo ihre Brauchbarkeit und Anwendung haben. Keine Betrachtung des Universums in seiner Gesamtheit kann abschließend sein, welche diese anderen Formen des Bewußtseins außer Acht läßt. Wie sie angehen, ist die Frage ...“.

William James ( 1902)



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Hirn und Ich-Bewußtsein

Als Produkt einer hochentwickelten Hirnphysiologie dient das Bewußtsein in erster Linie der Ermöglichung komplexer zielorientierter Verhaltensstrategien aufgrund einer multimodalen und holistisch integrierten Perzeptionsfähigkeit. Es vermittelt die integrierende Berücksichtigung einer Vielzahl von intra- und intersubjektiven Variablen sowie einer komplexen, die präsente Gegenwart übergreifenden Vielfalt von Umweltvariablen. Das Bewußtsein befähigt zur Widerspiegelung dieser Variablen und ermöglicht über die Schaffung abstrahierter Umweltmerkmale mentale Operationsmöglichkeiten mit neugewonnenen abstrakten Merkmalskategorien.

Der Multidimensionalität des Phänomens Bewußtsein entspricht die Breite des Spektrums der Ansätze zu seiner Erforschung. Da Bewußtsein Merkmale aufweist, die sich auf stark präreflexive Elemente der subjektiven Erfahrung beziehen und zugleich eine neuronale Grundlage als gesichert betrachtet werden darf, erscheinen sowohl auf subjektive Erfahrung fußende als auch naturwissenschaftliche Methoden zu seiner Erforschung legitim. Die Subjektseite des Bewußtsein wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die deskriptiven Psychologien von Brentano (1874) und James (1890) sowie später die philosophische Phänomenologie (Edmund Husserl u.a.) Gegenstand der Forschung (Brecht 1949). Ausgehend vom systematischen Studium des in der unmittelbaren Erfahrung Gegebenen konnten eine Reihe von qualitativen Merkmalen des Bewußtsein genauer beschrieben, eingegrenzt und definiert werden. Von naturwissenschaftlicher Seite wurde Bewußtsein im frühen 20. Jhrdt. zunächst Thema bei der Untersuchung von Ausfällen bewußter Wahrnehmung in spezifischen Bereichen (Gesichtererkennung, Körperwahrnehmung u.a.) bei Hirngeschädigten (vgl. Prigatano & Schacter 1991) . Neuartige Untersuchungsmethoden können der Stoffwechsel des lebenden Gehirns abbilden (Positronen-Emissions-Tomographie (PET), funktionelle Magnetresonanztomographie fMRT)) und damit nähere Aufschlüsse über die funktionell an der Entstehung und Aufrechterhaltung des Bewußtsein beteiligten Hirnstrukturen bzw. hirnimmanenten Prozesse liefern. Eine einzelne anatomische Struktur, an welche Bewußtsein gebunden wäre, konnte jedoch nicht gefunden werden. Auch deshalb wird davon ausgegangen, daß es sich beim Bewußtsein um ein globales Integrations- und Übertragungssystem handelt, welches eine spezifische Synchronisierung großer Verbände von Hirnzellen voraussetzt, um die als Ganzheit erfahrene subjektive Erfahrungswelt zu erzeugen. Wichtig für die Erforschung des Bewußtseins sind auch die von philosophischer Seite geführten metatheoretischen Diskurse über die Konzeptualisierbarkeit von Bewußtsein, welche einer Eruierung funktionaler Eigenschaften zustreben, die oberhalb physischer Beschreibungsebenen objektive Zuschreibungskriterien liefern können ( Metzinger & Schuhmacher 1999).

Im psychiatrischen Feld wird Bewußtsein - im Anschluß an Jaspers (1913) - nicht als Bewußtsein selbst definiert, sondern als ein eigentümlicher Grad Klarheit, Fülle, Beweglichkeit, Ablaufstempo und Rangordnung des inneren Erlebens und der psychischen Funktionen verstanden. Das Ganze des bewußten Seelenlebens umschließt nach diesem Definitionsversuch 3 verschiedene Aspekte: 1. die reale Innerlichkeit des Erlebens, die auch als Ich-Erleben oder Ich-Bewußtsein bezeichnet wird, d.h. die nach innen gerichtete Wahrnehmung, Vorstellung usw.; 2. das Gegenstandesbewußtsein, auch als Phänomen der Subjekt-Objekt-Relation gefaßt, d.h. die nach außen, auf Gegenstände gerichtete Wahrnehmung; 3. das Selbstbewußtsein, d.h. das Wissen des Bewußtsein um sich selbst.

Obgleich die physiologischen Grundlagen des Bewußtseins von medizinischen Forschern erarbeitet wurden (Moruzzi & Magoun 1949, Hess 1925, 1952, Ebbecke 1959, Sperry 1968 u.a.), und ein großangelegter theoretischer Entwurf zu psychologisch-psychiatrischen Dimensionen des Bewußtseinsproblems aus der Feder eines der bedeutendsten europäischen Psychiater stammt (Ey 1967), ist das Thema Bewußtsein kein Zentralproblem medizinischer Wis­senschaften, sondern vornehmlich im Bereich von Psychologie und Philosophie zu verorten (vgl. Marcel und Bisiach 1988).

Anderes gilt im Bereich der vielfältigen Zuständlichkeiten des Bewußtseins, der sogenannten "Bewußtseinszustände" und "Bewußtseinsstörungen". Diese stellen ein traditionelles Gebiet medizinisch-psychiatrischer Forschung und Expertise dar (vgl. Müller 1879, Jahrreiss 1928, Rosenfeld 1929, Staub & Thölen 1961, Boor 1966, Neopil 2000) . In diesem Feld haben die medizinischen Wissenschaften eine zentrale Stellung was die Erforschung wie auch diagnostische und therapeutische Verwertung dieser Phänomene angeht.

Bedingt durch eine mangelhafte Integration der Grundlagen­forschung wird "Bewußtsein" im Kontext wis­senschaftlicher Forschung noch immer - ohne adäquate Einbeziehung seiner vielgestaltigen Modifikationsformen - simplifizierend mit dem vage definierten Konzept eines idealisierten Tages-Wach-Bewußtseins mit einem Mittelmaß an zentralnervöser Errregung gleichgesetzt. Die Abb. 1 vermittelt einen Eindruck davon, daß der Zustand eines „mittleren Tages-Wach-Bewußtseins“ nur für ein eingegrenztes Segment menschlicher Selbst- und Umwelterfahrung präsent ist.

 
 
Abb. 1: Tagesprofil der Bewußtseinszustände (modifiziert nach Thomas 1973)
 
  Wie sich bei Durchsicht der Liter­atur ersehen läßt, wurde das komplexe Gebiet der veränderten Bewußtseinszustände und Bewußtseinstörungen, obwohl in vielerlei Hinsicht mindestens potentiell verbunden mit den psychologischen und philosophischen Bemühungen um das Bewußtsein­sproblem (vgl. Guttmann und Langer 1992; Flanagan 1992), bisher hauptsächlich von medizinisch-psychiatrischer Seite angegangen und seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Standardthema in psychia­trischen Lehrbüchern diskutiert. Die 1991 erfolgte Einführung der Schlagworte "Consciousness" und "Consciousness Disorders" im "Index Medicus" geht einher mit einer sich ver­größernden Bedeutung von Bewußtseinszuständen und Bewußtseinsstörungen im Rahmen psychologischer Bewußtseinstheorien (vgl. Underwood und Stevens 1979; Farthing 1992).  
 
Abb. 2: Anteile verschiedener Bewußtseinszustände an der Erfahrungswelt des Menschen
 
  Das normale Wachbewußtsein impliziert ein weites Spektrum subjektiver Erfahrungen, abhängig von Faktoren wie physischem und sozialem Setting, Stimmungen und Erregungsniveau, der Befaßtheit mit inneren oder äußeren Stimuli oder dem inneren Erleben von Denkvorgängen, Vorstellungen und Erinnerungen. Veränderte Bewußtseinszustände definierte in konsistenter Weise erstmals Tart: „An altered state of consciousness [ASC] for a given individual is one in which he clearly feels a qualitative shift in his pattern of mental functioning, that is, he feels not just a quantitative shift (more or less alert, more or less visual imagery, sharper or duller, etc.), but also that some quality or qualities of his mental processes are different. … the existence of feelings of clear, qualitative changes in mental functioning that are the criterion of ASCs. … For those who prefer a behavioristic approach an ASC is a hypothetical construct invoked when an S’s behavior (including the behavior of verbal report) is radically different from his ordinary behavior” (Tart 1969: 1f.). Diese Definition ist bis heute grundlegend geblieben. Eine erklärende Erweiterung fand diese Definition durch Farthing (1992), der seinen Definitionsversuch in folgende Punkte gliedert:
  • ASCs are not merely changes in the contents of consciousness;
  • ASCs involve a changed pattern of subjective experiences, not merely a change in one aspect or dimension of consciousness;
  • ASCs are not necessarily recognized by the individual at the time that they are happening; they may be inferred afterwards;
  • ASCs are relatively short-term, reversible conditions;
  • ASCs are identified by comparison to the individual’s normal waking state of consciousness;
  • The essence of a state of consciousness is the individual’s pattern of subjective experience, not his or her overt behavior or physiological responses.
Neben den Veränderungen der subjektiven Erfahrung sind veränderte Bewußtseinszustände durch Veränderungen kognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis usw.), Verhaltensmodifikationen und bestimmten physiologischen Veränderungen (Erregungsniveau, EEG-Wellenmuster usw.) gekennzeichnet.

Tabelle 1 vermittelt einen Überblick über die subjektiven und objektiven Parameter, die während eines veränderten Bewußtseinszustandes abgewandelt sein können.

Alterations in
   Thinking
   Concentration
   Attention
   Memory
   Judgement
   Modes of thought (primary/secondary process thought)

Alterations of reflective awareness

Alterations in time sense (acceleration, standstill, slowing)

Qualitative and quantitative changes in controlling abilities (losing grip to reality/losing self-control)

Alterations of emotional expression/impressionability (detachment/involvement)

Alterations in body experience/body perception/body image/body-physiology-perception

Changes in self-perception
   Depersonalisation/derealisation
   Range of dissolution of boundaries (self/others, self/world)

Changes in ego-functions
   Observer function
   Control functions
   Integrative functions
   Intersubjectivity constituting functions
   Executive functions

Alterations in imagery abilities
Tabelle 1: Veränderte psychische und kognitive Funktionen bei veränderten Bewußtseinszuständen

1966 hat erstmals Ludwig in einer Synopsis versucht, veränderte Bewußtseinszustände systematisch in ihren allgemeinen Charakteristika sowie ihren individuellen und sozialen Funktionszusammenhängen genauer zu definieren (Ludwig 1966). Tarts Begriff spezifizierte später Dittrich im Rahmen seiner umfangreichen experi­mentellen Untersuchungen als "Veränderte Wach-Bewußtseinszustände (VWB)“ (vgl. Dittrich 1985).

Schon vor den Arbeiten von Ludwig und Tart beginnend wurden Untersuchungen zum Vorkommen veränderter Bewußtseinszustände durchgeführt (Tab. 2). Diese zeigen, daß diverse veränderte Bewußtseinszustände ein häufiges und regelmäßig anzutreffendes Phänomen der menschlichen Erfahrungswelt darstellen und von daher nicht nur den Staus einer wissenschaftlichen Kuriosität beanspruchen dürfen. Sie können sogar die machtvollsten psychologischen Phänomene sein, die dem Menschen erfahrbar sind. So kann eine fünfminütige Erfahrung in einem veränderten Bewußtseinszustand (etwa eine religiöse oder eine Nah-Todeserfahrung) die habituelle Ausrichtung, Wertorientierung und den ganzen Lebensweg einer Person gravierend verändern (vgl. z.B. Atwater & Ring 1985). Auch das Heilungspotential, die kulturbildende Funktion, die pathologischen Aspekte im Rahmen psychopathologischer Syndrome und der Anpassungswert veränderter Bewußtseinszustände erscheinen für den wissenschaftlichen Bearbeiter von Bedeutung.

 Art derBewußtseins-veränderung

  Population

 Anteil positiver Antworten

  Literatur

Depersonalisation

 

Studenten

23 %
46 %

 

Roberts 1960
Dixon 1963

Hypnoseartige Zustände

 

Studenten
Normalprobanden

40-60 %
80-90 %

Shor 1960
As et al. 1962

 

Mystische Zustände

Studenten

29 %
30-40 %
28 %
45 %

Kokoszka 1992/3
Taft 1969
Palmer 1979
Greeley & McCready 1979

“Superficially altered states of consciousness”

Studenten
Normalprobanden

81%
72-89%
81,8 %

 

Kokoszka 1992/3
Shor 1960
Suita 1987

Religiöse Erfahrungen

Repräsentative Normalpopulationen
Kirchgänger

36,4 %
30-35%
50%
30-35 %

Hay & Morisy 1978, Hay 1979
Hardy 1970, Back & Bourque 1970, Greeley 1975
Wuthnow 1976
Glock & Stark 1965

Tabelle 2: Übersicht zur Häufigkeit des Vorkommens veränderter Bewußtseinszuständen in Normalpopulationen.

Eine Übersicht über die „nötigen Reizmittel“ (Terminus von W. James 1902) zur Induktion veränderter Bewußtseinszustände stellte Dittrich (1990) zusammen (Tab. 4).

1. Pharmakologische Stimuli
a. Halluzinogene I. Ordnung
b. Halluzinognen II. Ordnung
   
2. Psychologische Stimuli
a. Herabgesetzte Variabilität des Wahrnehmungsfeldes bei herabgesetzter oder normaler Intensität

Sensorische Deprivation i.w.S.
Sensorische Deprivation i.e.S.
Perzeptive Deprivation
Hypnagoge und hypnopompe Zustände
Hetero- und autohypnotische Techniken
Heterohypnotische Verfahren
Authypnotische Entspannungsverfahren
Meditationsverfahren
   
b. Erhöhte Rhythmizität oder Variabilität des Wahrnehmungsfeldes
  Intensive Rhythmizität des Wahrnehmungsfeldes
(Rhytmische Photostimulation, Leistungssport Joggen)
Erhöhte Variabilität des Wahrnehmungsfeldes bei normaler oder erhöhter Intensität
(unterbrochene Verlaufsgestalten bei hochstrukturiertem, extrem variablen Material, Kombination von Reizüberflutung mit Physischen Übungen n. Ludwig und Lyle)
   
c. Weitere Techniken zur Auslösung von ABZ

Einzelstimuli
(exzessive Masturbation, Orgasmus, Fasten, Respiratorisches Biofeedback, Lesen von Geschichten, Hören von Musik, Schlafentzug, Asketisches Wachen (n. Ernst Benz), Burking, Hyperventilation, Carbon Dioxide Therapy)
Kombination verschiedener Verfahren
(Schlafentzug vor Halluzinogenapplikation, Hypnodelische Therapie n. Levine und Ludwig, Kombination von Fasten, Reizentzug und Meditation bei religiösen Praktiken)
Tabelle 3: „Reizmittel“ zur Auslösung veränderter Bewußtseinszustände nach Dittrich (1990)

Kritische Exkurse zu kulturhistorischen Aspekten der Begegnung des Menschen mit veränderten Bewußtseinszuständen, die im Abendland von einem Prozeß kultureller Assimilation bis zur neuzeitlichen Ausgrenzung gekennzeichnet ist, lieferten Nitzschke (1974) und Lenk (1983). Geographisch-klimatische Zusammenhänge von Mentalitätsformen und Bewußtseinseinszuständen belegte Hellpach (1955). Aussichten auf eine produktive kulturelle Integration eines Spektrums veränderter Bewußtseinszustände zeigte Crook (1980).

1.2. Kulturelle und medizinische Bedeutung veränderter Bewußtseinszustände

Wie weltweite ethnologisch-anthropologische Studien zeigen (Tab. 4), ist davon auszugehen, das institutionalisierte kul­turell integrierte Formen einer intendierten Erzeugung und Nutzung spezifischer BZ ubiquitär verbreitet sind und wegen ihrer großen Bedeutung im Kontext traditioneller medizinischer und re­ligiöser Praktiken und Vorstellungskomplexe als bedeutende anthropologische Konstante betrachtet werden müssen (vgl. Prince 1968; Bourguignon 1973).

  Anzahl untersuchter Gesellschaften Anzahl mit institutionalisierten veränderten BZ Anzahl ohne institutionalisierten veränderten BZ
Afrika südlich der Sahara 114 94 (82%) 20 (18%)
Mittelmeerraum 44 35 (80%) 9 (20%)
Osteurasien 65 61 (94%) 4 ( 6 %)
Pazifik-Inseln 86 81 (94%) 5 ( 6%)
Nordamerika 120 116 (97%) 4 ( 3%)
Südamerika 59 50 (85%) 9 (15%)
       
Gesamt 488 437 (90%) 51 (10%)
Tabelle 4: Institutionalisierte Formen veränderter Bewußtseinszustände: Vorkommen in den ethnographischen Hauptregionen (nach Bourguignon 1973)

Auch das - vordem kaum vermutete - breite Vorkommen, das für einige deutlich vom "mittleren Tages-Wach-Bewußtsein" abwe­ichende (nicht selten psychologisch tiefgreifende) Erfahrungen in spezi­fischen veränderten BZ innerhalb der Normalpopulation nachgewiesen werden konnte (vgl. Tab. 2) vermittelt Hinweise auf deren - bislang nur wenig wahrgenommene - Bedeutung in der Erfahrungswelt des Menschen. Im Unterschied zum westlichen Kulturkreis haben weite Teile (fern-)östlicher Kulturen im Rahmen uralter Traditionen eine ausgeprägte Kultivierung von bewußtseinsverändernden meditativen und schamanistischen Praktiken entwickelt (vgl. Dobkin de Rios und Winkelman 1989; Tart 1975b, West 1988). Auch im Bereich der modernen Medizin und Psychotherapie werden bes­timmte Formen von Bewußtseinszustände seit langem genutzt (vgl. Dittrich & Scharfetter 1987).

Biofeedback
Imaginative Psychotherapieverfahren
Hypnose, Auto­genes Training, Meditationsverfahren
"Freie Assoziation" in der Tiefenpsychologie
"Transpersonale" Therapieverfahren
Reduced environmental stimulation (REST)
Narko­analyse
Psycholytische Therapie
Tabelle 5: Einige moderne medizinische Anwendungen veränderter Bewußtseinszustände
 
  Hinzuweisen ist auch auf die jahrtausendealte Tradition der Heilanwendung bestimmter Bewußtseinszustände im Rahmen schamanistischer Prak­tiken (Eliade 1958, Walsh 1992). Überdies wurden im Zusammenhang mit der Erforschung und theo­retischen Konzeptualisierung von Bewußtseinszuständen innovative Forschungshypothesen, insbesondere zur Ätiologie der Psychosen, generiert (vgl. z.B. Ludwig 1975; Kempe 1980; Hermle et al. 1988, Pletscher & Ladewig 1994).

Wie die größeren Konferenzen und Sammelbände zum Thema Bewußtseinszustände bzw. Bewußtseinsstörungen verdeutlichen (Tart 1969, Prince 1968, Zinberg 1977, Resch, Dittrich & Scharfetter 1987, Staub & Thölen 1962, Dittrich et al. 1993/94), existieren vielfältige Bezüge des Themas zu Nachbardisziplinen wie Neurologie, Neurophysiologie, Neuropsychologie, Psychophysiologie, Biochemie, Psychopharmakolo­gie, experimentelle Psychologie, Neuro- und Kognitionswis­senschaften wie auch zu Ethnologie, Anthropologie, Religionspsy­chologie u.a.

Der Medizin könnte im Hinblick auf die Vermittlung der diversen Perspektiven bzw. Betrachtungsebenen aus mehreren Gründen eine in­tegrative Schlüsselfunktion zukommen: 1. Die Erforschung der mul­tifaktoriellen psychophysiologischen Ätiologie (und Nutzung) der verschiedenartigen BZ und BS erfordert stets medizinische Grundlagenkenntnisse; 2. die Medizin hat durch die langwährende Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Bewußtseinsveränderungen im Zusammenhang mit organischen und psy­chiatrischen Erkrankungen breite Erfahrungen bei der Beschreibung, Beurteilung und diagnostischen Bewertung dieser Phänomene; 3. die Medizin hat seit langem Grundlagenforschung zu Bewußtseinsveränderungen betrieben; 4. die Medizin verfügt über eine lange Tradition in der therapeutischen Anwendung bestimmter Bewußtseinszustände; 5. die Medizin hat mit ihrem Spektrum spezial­isierter Einzeldisziplinen am ehesten die Möglichkeit zur Integra­tion einer Vielfalt von Aspekten bei der Beforschung, Beschreibung und theoretischen Konzeptualisierung dieser komplexen Phänomene.

Neuere Versuche von medizinischer Seite, die Bedeutung von Bewußtseinszustände für die psychiatrische Diagnostik und Theoriebildung auszumessen, stammen von dem Schweizer Psy­chopathologen Scharfetter (Scharfetter 1986, 1991, 1992). Die Bedeutung von Bewußtseinsveränderungen im Rahmen psycho­tischer Erkrankungen ist bisher nur sehr unvollkommen untersucht, obwohl hierzu insbesondere die schon seit langem be­triebenen und jüngst wiederaufgenommenen Forschungen zu den Hal­luzinogen-induzierten Modellpsychosen interessante Anregungen liefern dürften (vgl. Beringer 1927, Leuner 1962, Hermle et al. 1988, Pletscher & Ladewig 1994, Vollenweider 2001, Vollenweider 2001).

Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojektes an der MHH mit dem Titel „Psychophysiologische Korrelate veränderter Wachbewußtseinszustände“ wurden verschiedene Projekte entworfen und durchgeführt. Um die in der vorliegenden Schrift angeführten Studien aus diesem Projektzusammenhang wie auch nicht angeführten bzw. noch in Arbeit und Planung befindlichen Untersuchungen in diesem Kontext sinnvoll einordnen zu können, sollen an dieser Stelle kurz die Intentionen, experimentellen Studien, integrierenden und theoretischen Arbeiten sowie die weiteren Planungen umrissen werden.

Das Projekt stellt sich zur Aufgabe eine Reihe subjektiver, neurokognitiver und physiologischer Korrelate von einigen veränderten Bewußtseinszuständen zu untersuchen (vgl. Abb. 3). Obgleich nur eine kleine Anzahl verschiedener veränderter Bewußtseinszustände untersucht werden können, dürfen als direktes Resultat neue Ergebnissen bezüglich der einzelnen erhobenen Parameter erwartet werden. In einem zweiten Schritt können dann Beziehungen zwischen diesen Parametern eruiert und dargestellt werden. Darauf basierend werden in einem nächsten Schritt Rückschlüsse auf die grundsätzliche Charakteristik der jeweiligen Zustände, ihre Einordnung in einer Systematik von Bewußtseinszuständen sowie ihre spezifischen Ätiologien auf verschiedenen Erklärungsebenen möglich. Desweiteren könnten Erkenntnisse über die psychotherapeutischen Potentiale einiger dieser Zustände gewonnen und diese gezielter einsetzbar werden.
 
 
 

Abb. 3: Mögliche Ansatzpunkte zur Untersuchung veränderter Bewußtseinszustände

Bedauerlicherweise sieht sich die Erforschung veränderter Bewußtseinszustände auch mit komplexen Schwierigkeiten konfrontiert, wie sie partiell schon in den Abschnitten 3.1. und 3.3. dieser Arbeit beschrieben wurden. So können etwa die in Abb. 3 angeführten multiplen Herangehensweisen naturgemäß teilweise nur sehr begrenzt, teils sogar gar nicht angewandt werden. Wie soll etwa während eines rituellen Tanzes, der zur Induktion eines veränderten Bewußtseinszustandes führen soll, eine PET-Untersuchung oder einen neuropsychologische Testung durchgeführt werden? Demzufolge wird unser Bild von verschiedenen veränderten Bewußtseinszuständen stets mit einer Anzahl von Limitierungen behaftet sein.


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