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1. Das Alltagsbewußtsein als persönliche
Konstruktion
2. Die Selektivitätsfunktion der Sinnessysteme
3. Automatisierungsprozesse und Wahrnehmungsbeschränkung
4. Gewohnheit, Selbstvergessenheit und Existenz
1. Das Alltagsbewußtsein als persönliche Konstruktion
Dieser Text beschäftigt sich damit, welche Mechanismen unsere Wahrnehmungsfähigkeit
im sogenannten "gewöhnlichen" Alltagsbewußtsein bestimmen
und wie diese Mechanismen ganzheitlichere Formen des Gewahr-sein behindern.
Zu diesem Zweck bezieht sich der folgende Text auf Robert Ornsteins Buch
"Die Psychologie des Bewusstseins“.
Ornsteins Ansatz geht davon aus, daß unser "gewöhnliches"
Bewusstsein durch ein auf Stabilität zielendes Konstruktionssystem
von Annahmen strukturiert ist. Die Annahmen darüber, was wirklich
und damit möglich, bzw. was unwirklich und unmöglich ist, haben
in erster Linie überlebensichernde Funktion. Annahmen dieser Art
werden anscheinend aufgrund ihrer Praxistauglichkeit konstruiert und bei
erwiesener Nützlichkeit soweit integriert, daß sie nicht mehr
hinterfragt und als wahrnehmungsstrukturierende Grundlagen nicht mehr
bewusst wahrgenommen werden.
Das "gewöhnliche" Bewußtsein stellt sich somit als
auf einer Reihe von persönlichen Annahmen bzw. darauf basierenden
Konstruktionen dar, die dazu dienen, aus einer übergroßen Menge
an zur Verfügung stehenden Informationen, diejenigen für das
individuelle biologische Überleben nützlichen herauszufiltern.
„ ... Wir meinen, daß unser eigenes persönliches Bewußtsein
die Welt ist, daß eine äußere "objektive" Realität
durch unsere Erfahrung repräsentiert wird." (Ornstein 1976:
28). Dies ist jedoch nur sehr begrenzt der Fall. Vielmehr ist es so, dass
wir unser gewöhnliches Alltagsbewusstsein als nur eine mögliche
Form der Wahrnehmung bzw. des Bewußtseins zu betrachten haben. Der
bekannte amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842-1910)
schreibt dazu: "Wir sehen, daß der Geist in jedem Stadium ein
Schauplatz gleichzeitiger Möglichkeiten ist. Das Bewußtsein
besteht aus dem Vergleich dieser Möglichkeiten miteinander, dem Auswählen
einiger und dem Unterdrücken der anderen … und zwar geschieht
das durch die verstärkende und hemmende Wirkung der Aufmerksamkeit"
(James 1950: 288).
2. Die Selektivitätsfunktion der Sinnessysteme
Für Ornstein sind die im Bewußtsein stattfindenden, stabilität-erzeugenden
Konstruktionsvorgänge dafür bestimmend, was in unserer Wahrnehmung
bewußt wird und was nicht. Aus biologischer Sicht handelt es sich
im wesentlichen um Prozesse der Datenreduktion. "Unsere Sinnessysteme
sammeln Informationen, die das Gehirn modifizieren und aussortieren kann.
Diese stark gefilteren Informationen werden mit Erinnerungen und Körperbewegungen
verglichen, bis schließlich unser Bewußtsein als ´bestmögliche
Vermutung´ über die Wirklichkeit konstruiert wird.." (Ornstein
ebd. S.31)
Einen ähnlichen Ansatz formulierte der Schriftsteller Aldous Huxley
in seinem Buch "Die Pforten der Wahrnehmung", "... daß
nämlich die Funktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorgane
hauptsächlich eliminierend arbeiten und keinesfalls produktiv sind.
... Es ist die Aufgabe unseres Gehirns und des Nervensystems, uns davor
zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnützen
und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden."
(Huxley 1991: 19). Diese auswählende Funktion haben wir - so Ornstein
- der hohen Anpassungsleistung unseres Gehirns zu verdanken. Obwohl beispielsweise
unsere Augen ständig in Bewegung sind, auch Kopf und Körper
beweglichen Objekten folgen können, das Gehirn somit fortlaufend
neue Sinnesdaten in kohärente Wahrnehmungen und handlungsleitende
Konzepte verwandeln muß, bleibt die Sehwelt für die Wahrnehmung
relativ stabil. Dieses Zusammenbinden des Inputs verschiedener Sinnesorgane
im Bewusstsein wird in neueren Theorien über das Bewusstsein als
„binding“ bezeichnet. Wenn ich beispielsweise um einen Affen
herumtanze, verändert sich mein Gesichtsfeld permanent, sowohl durch
meine als auch durch des Affen Bewegungen, und doch sehe ich immer denselben
Affen. "Würden wir ein ´Bild ´auf der Netzhaut ´sehen´,
wäre unsere Sehwelt in jeder Sekunde anders, sie wäre einmal
dieses Objekt, einmal jenes, manchmal wäre sie verwischt, weil wir
unsere Augen bewegen, manchmal dunkel, weil wir blinzeln. Wir müssen
also aus dem ausgewählten Input ein persönliches Bewußtsein
konstruieren und auf diese Weise aus dem reichen und ständig wechselnden
Informations-fluß, der unsere Rezeptoren erreicht, eine gewisse
Stabilität der Be-wußt-heit erlangen." (Ornstein 1976:
39).
Solche stabilitäts-erzeugenden Selektionsvorgänge sind einerseits
nützlich, sinnvoll und notwendig, wirken aber andererseits reduzierend
und können dadurch auf die Aufnahme und Verarbeitung "neuer"
- möglicherweise ebenso sinnvoller - Informationen hemmen. Als Beispiel
für diese ausgrenzende Funktion der Auswahlmechanismen nennt Ornstein
ein Experiment, daß 1949 von Bruner und Postman durchgeführt
wurde. Sie zeigten Versuchspersonen mittels eines speziellen Projektors
kurz hintereinander aufleuchtende Spielkarten, unter denen sich auch "anormale"
Spielkarten, wie beispielsweise ein ROTES Pik-As und eine SCHWARZE Herz-Vier
befanden, und baten die Versuchsteilnehmer, die Karten richtig zu benennen.
Dabei zeigte sich, daß die meisten Teilnehmer die veränderten
Karten nicht korrekt wahrnahmen, sondern sie vielmehr "korrigierten",
so dass statt des faktischen ROTEN Pik-As ein gewöhnlich gestaltetes
Herz-As konstruierten. Wurden sie allerdings in einer anderen Anordnung
das Experiments darauf aufmerksam gemacht, daß „Herzen zwar
gewöhnlich rot seien, daß sich aber daraus nicht folgern lasse,
daß sie immer rot seien", konnten einige Teilnehmer schnell
die Anzahl der Täuschungen reduzieren und erkennen, was ihnen vorgelegt
wurde.
Ein ähnlich angelegtes Experiment etablierte die Arbeitsgruppe um
den Psychiatrieprofessor H.M. Emrich (Hannover) mit dem sogenannten Hohlmaskenparadigma,
bei welchem den Versuchspersonen eine menschliche Gesichtsmaske per Computerschirm
präsentiert wird, die mit der Abbildung einer identischen Hohlmaske
abwechselt. Diese sieht bei entsprechender Beleuchtung der gewöhnlichen
Maske so täuschend ähnlich, daß die Wahrnehmung quasi
überlistet wird und die Probanden angeben, dass sie – wie oben
im Falle des ROTEN Pik-AS – eine ganz gewöhnlich aussehende
Maske vor sich haben. Irritiert man nun das normale Funktionieren des
Wahrnehmungssystems indem man die Probanden verschiedenen besonderen Bedingungen
(Schlafentzug, Cannabiskonsum etc.) aussetzt, kommt es in vielen Fällen
dazu, dass die Hohlmasken als solche erkannt werden, da das Wahrnehmungssystem
gewisse Automatismen nicht mehr durchführen kann.
Diese Experimente belegen, daß große Teile unserer Vorannahmen
wahrnehmungsbestimmenden Charakter haben, aber durchaus - in Fall der
Spielkarten durch einen einfachen Hinweis - aufgehoben werden können.
Aufgrund dieser experimentellen Ergebnisse ist davon auszugehen, daß
unser "gewöhnliches" Alltagsbewußtsein nur eine kleine
Menge stark ausgewählter Informationen enthält, die dann einem
Konglomerat vorgefertigter Annahmen nach Plausibilitätskriterien
plausibel zugeordnet werden. Eine Schlussfolgerung daraus wäre, daß
wir vorwiegend das wahrnehmen, was wir wahrzunehmen erwarten.
3. Automatisierungsprozesse und Wahrnehmungsbeschränkung
Demnach ist unser "gewöhnliches" Bewußtsein gekennzeichnet
durch Auto-matisierungsprozesse, mit denen wir uns schnell an Dinge, Abläufe,
Prozesse aber auch Menschen anzupassen in der Lage sind (Stichwort: „Gewohnheiten“).
Wenn wir beispielsweise bestimmte Strecken mit dem Auto zurücklegen,
haben wir diese oft derartig "verinnerlicht", daß die
Reaktionen beim Autofahren völlig automatisiert ablaufen. Ebenso
verhält es sich mit der gerade aufgezogenen Uhr, die anfänglich
bestechend nervend tickt und deren Tickerei nach wenigen Minuten in der
unbewußten Wahrnehmung verschwindet. Sobald das Ticken sich allerdings
verändert oder ausbleibt, gelangt es wieder in die bewußte
Wahrnehmung.
Der Neurophysiologe Karl Pribram nannte dieses Phänomen den „Bowery-El-Effekt“.
Der Effekt ist benannt nach einer New Yorker S-Bahnlinie, auf der jeden
Abend zur selben Zeit ein sehr lauter Zug fuhr. Als die Linie stillgelegt
wurde, riefen (zur selben Zeit als früher der Zug verkehrte), viele
besorgte Bürger bei der Polizei an, weil sie meinten, Geräusche
von Einbrechern zu hören. Die Leute hörten allerdings keine
Einbrecher, sondern das Fehlen der Zuggeräusche. Sie wurden sozusagen
durch einen Entautomatisierung-sprozess auf die Geräusche, die sonst
immer vorhanden waren, erneut aufmerksam.
Aus überlebenstechnischen Gründen trägt diese stabiliserende
Funktion des Bewußtseins dazu bei, daß wir uns mit kontinuierlichen
Reizen nicht weiter beschäftigen, um damit Platz zu haben für
die Wahrnehmung neuer oder auch lebensbedrohlicher Reize. So sind die
Zellen von Sehrinde und Netzhaut in ihren ersten Verarbeitungsschritten
darauf spezialisiert, Veränderungen im Input zu entdecken und ständig
gleichbleibende zu ignorieren.
Diese Automatisierungsprozesse lassen darauf schließen, daß
wir uns Modelle der "äußeren" Welt erschaffen und
die eingehenden Informationen daran einordnend auf ihre Plausibilität
prüfen. Erst wenn der Informationsgehalt in einem groben Widerspruch
zum konstruierten Weltmodell steht, wird das erstellte Modell bewußt
und kann dann revidiert werden. Die Toleranzgrenze dazu ist allerdings
- so nimmt Ornstein an - ausgesprochen groß. Das bedeutet, daß
die Modelle, die wir in unserem Bewußtsein erstellt haben, umfangreiche
Wahrnehmungserwartungen produzieren: Wir erwarten etwa, daß ein
Auto ein bestimmtes Geräusch von sich gibt oder das ein Mensch sich
auf eine bestimmte Art äußert; und die meisten Geschehnisse
folgen auch diesen Vorannahmen.
Stabilitätserzeugende und –erhaltende Annahmen bzw. Modelle
über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wirken also wahrnehmungsbildend
und sind nicht nur durch die Funktionstätigkeit unserer Sinnessysteme,
sondern auch durch individuell-biographische und sozio-kulturelle Faktoren
bestimmt, die zudem noch durch die jeweilige Bedürfnislage des Individuums
verändert werden. Individuell-biographische Faktoren sind etwa familiärer
Background, Ausbildung, individuelle Interessen, gesellschaftlicher Status
und dessen Bewertung. Sozio-kulturelle Faktoren sind beispielsweise stillschweigende
unbewußte Übereinkünfte, die in einem spezifischen Kulturkreis
"regieren". Gerade die Bindung an einen Kulturkreis, die mit
dem gemeinsamen Gebrauch einer Sprache einhergeht, die wiederum nur bestimmte
eingegrenzte Ausdrucks-möglichkeiten erlaubt, trägt dazu bei,
daß auch nur bestimmte Erfahrungen, die im Rahmen dieser benutzten
Sprache benennbar sind, als solche erkannt und artikuliert werden können.
Zudem unterliegt die individuelle Wahrnehmung Schwankungen, die von den
aktuellen Stimmungen und Bedürfnissen beeinflußt werden. Kurz
und bündig beschreibt diesen Umstand der sufische Dichter Jalludin
Rumi: „Wie ein Stück Brot aussieht, hängt davon ab, ob
man Hunger hat oder nicht" (Shah 1976: 144). Wie ich bestimmte Situationen
oder Dinge wahrnehme, hängt demnach wesentlich von meiner jeweiligen
Stimmungs- und Bedürfnislage ab.
4. Gewohnheit, Selbstvergessenheit
und Existenz
Unser persönliches Bewußtsein ist das Ergebnis komplexer konstruktiver
Leistungen. Das, was in unsere bewußte Wahrnehmung dringt, ist nur
ein spärliches Rinnsal dessen, was unsere Sinnesorgane tatsächlich
aufnehmen. An diesem Rinnsal vorselektierter Informationen werden noch
diverse zusätzliche subjektive „Anreicherungen“ vollzogen,
welche von unseren aktuellen Stimmungen und Bedürfnislagen wie auch
unseren vorgefassten Modellvorstellungen über die Wirklichkeit bestimmt
werden.
Ferner unterliegt das "gewöhnliche" Bewußtsein Automatisierungs-prozessen,
die die Wahrnehmung von stabilen sich wiederholenden Reizen aus dem Bewusstsein
fernhalten, da unser Wahrnehmungsapparat aus überlebens-technischen
Gründen primär auf die Wahrnehmung von Veränderungen aus-gerichtet
ist. Je stabiler ein Reiz ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß
er ohne besondere Anstrengung (gelenkte Aufmerksamkeit) in die bewußte
Wahrnehmung gelangt.
Einer der Gründe, warum wir uns selbst vergessen, also vergessen
daß wir da sind, daß wir „existieren“, ist in
jenem Gewöhnungsprozeß zu finden. Unsere kontinuierliches Existieren
in einem Rahmen von Gewohnheiten vermittelt uns unsere „Identität“.
Denn die Grundlage und Voraussetzung bewußten Seins, vor der alle
Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle projektionsartig in einem ununterbrochenen
Strom ablaufen, ist quasi der sicherste, der stabilste „Reiz"
überhaupt. William James spricht in diesem Zusammenhang vom „Bewußtseinsstrom".
Für ihn ist das Bewußtsein „nichts Gegliedertes, es strömt“.
„Wenn wir davon sprechen, wollen wir es den Gedankenstrom, den Bewußtseinsstrom
oder den Strom subjektiven Lebens nennen" (James 1950: 239). Das
aber, woran wir uns gewöhnt haben, wird aus der bewußten Wahrnehmung
weitgehend ausgeblendet. Überspitzt formuliert könnte man also
sagen: Wir haben uns derartig an unsere Existenz gewöhnt, daß
uns gar nicht mehr auffällt, daß wir existieren. Ferner ist
es aus oben genannten überlebenstechnischen Gründen nicht not-wendig,
uns unserer Existenz zu erinnern oder uns ihrer gewahr zu sein, denn wir
überleben auch, ohne uns darüber bewußt zu sein. Eine
alte Sufi-Geschichte beschreibt diesen Umstand sehr elegant: "Fische,
die wissen wollten, was Wasser sei, gingen zu einem weisen Fisch. Er sagte
ihnen, daß sie sich mitten darin befänden, und doch glaubten
sie immer noch, durstig zu sein" (Shah 1976: 284).
Daraus kann man schließen, daß die Wahrnehmung unseren Existierens
eine besonders bewußte Ausrichtung/Schulung der Aufmerksamkeit erfordert.
Falls es irgendetwas gibt, was beständig da ist - um uns herum und
in uns - dann fällt es uns aufgrund der üblichen Funktionsweise
unseres Bewußtsein äußerst schwer, es überhaupt
wahrzunehmen. Außerdem sind die Vorstellungen, die wir über
die Beschaffenheit der Wirk-lichkeit haben, im allgemeinen sehr stabil.
Es ist wahrscheinlich, daß wir viele Vorstellungen, denen wir unsere
Wahrnehmungen zuordnen, allein deshalb schwierig zu identifizieren sind,
weil sie sehr allgemein und umfassend sind; so dass sie uns uns kaum als
"bloße Vorstellungen" bewußt werden können.
Um eine Vorstellung revidieren zu können, muß sie allerdings
als solche erst einmal identifiziert werden, was - wie gesagt - besonders
schwierig ist, wenn sie etwa als allgemeine Übereinkunft von allen
Menschen eines bestimmten Kulturkreises geteilt wird.
Literatur
Huxley, A: Die Pforten der Wahrnehmung. München/Zürich 1981.
James, W: The Principles of Psychology. New York 1950.
Ornstein, R: Die Psychologie des Bewusstseins. Frankfurt/Main 1976.
Shah, I: Die Sufis. Botschaft der Derwische - Weisheit der Magier. Köln/München
1976.
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