Bewusstsein, Wahrnehmungsbeschränkung und Selbstvergessenheit:
Einblicke in das Bewußtseinsmodell von Robert Ornstein

Von Dr. Torsten Passie und Birgit Permantier
 

1. Das Alltagsbewußtsein als persönliche Konstruktion
2. Die Selektivitätsfunktion der Sinnessysteme
3. Automatisierungsprozesse und Wahrnehmungsbeschränkung
4. Gewohnheit, Selbstvergessenheit und Existenz


1. Das Alltagsbewußtsein als persönliche Konstruktio
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Dieser Text beschäftigt sich damit, welche Mechanismen unsere Wahrnehmungsfähigkeit im sogenannten "gewöhnlichen" Alltagsbewußtsein bestimmen und wie diese Mechanismen ganzheitlichere Formen des Gewahr-sein behindern. Zu diesem Zweck bezieht sich der folgende Text auf Robert Ornsteins Buch "Die Psychologie des Bewusstseins“.
Ornsteins Ansatz geht davon aus, daß unser "gewöhnliches" Bewusstsein durch ein auf Stabilität zielendes Konstruktionssystem von Annahmen strukturiert ist. Die Annahmen darüber, was wirklich und damit möglich, bzw. was unwirklich und unmöglich ist, haben in erster Linie überlebensichernde Funktion. Annahmen dieser Art werden anscheinend aufgrund ihrer Praxistauglichkeit konstruiert und bei erwiesener Nützlichkeit soweit integriert, daß sie nicht mehr hinterfragt und als wahrnehmungsstrukturierende Grundlagen nicht mehr bewusst wahrgenommen werden.
Das "gewöhnliche" Bewußtsein stellt sich somit als auf einer Reihe von persönlichen Annahmen bzw. darauf basierenden Konstruktionen dar, die dazu dienen, aus einer übergroßen Menge an zur Verfügung stehenden Informationen, diejenigen für das individuelle biologische Überleben nützlichen herauszufiltern. „ ... Wir meinen, daß unser eigenes persönliches Bewußtsein die Welt ist, daß eine äußere "objektive" Realität durch unsere Erfahrung repräsentiert wird." (Ornstein 1976: 28). Dies ist jedoch nur sehr begrenzt der Fall. Vielmehr ist es so, dass wir unser gewöhnliches Alltagsbewusstsein als nur eine mögliche Form der Wahrnehmung bzw. des Bewußtseins zu betrachten haben. Der bekannte amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842-1910) schreibt dazu: "Wir sehen, daß der Geist in jedem Stadium ein Schauplatz gleichzeitiger Möglichkeiten ist. Das Bewußtsein besteht aus dem Vergleich dieser Möglichkeiten miteinander, dem Auswählen einiger und dem Unterdrücken der anderen … und zwar geschieht das durch die verstärkende und hemmende Wirkung der Aufmerksamkeit" (James 1950: 288).

2. Die Selektivitätsfunktion der Sinnessysteme

Für Ornstein sind die im Bewußtsein stattfindenden, stabilität-erzeugenden Konstruktionsvorgänge dafür bestimmend, was in unserer Wahrnehmung bewußt wird und was nicht. Aus biologischer Sicht handelt es sich im wesentlichen um Prozesse der Datenreduktion. "Unsere Sinnessysteme sammeln Informationen, die das Gehirn modifizieren und aussortieren kann. Diese stark gefilteren Informationen werden mit Erinnerungen und Körperbewegungen verglichen, bis schließlich unser Bewußtsein als ´bestmögliche Vermutung´ über die Wirklichkeit konstruiert wird.." (Ornstein ebd. S.31)
Einen ähnlichen Ansatz formulierte der Schriftsteller Aldous Huxley in seinem Buch "Die Pforten der Wahrnehmung", "... daß nämlich die Funktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten und keinesfalls produktiv sind. ... Es ist die Aufgabe unseres Gehirns und des Nervensystems, uns davor zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnützen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden." (Huxley 1991: 19). Diese auswählende Funktion haben wir - so Ornstein - der hohen Anpassungsleistung unseres Gehirns zu verdanken. Obwohl beispielsweise unsere Augen ständig in Bewegung sind, auch Kopf und Körper beweglichen Objekten folgen können, das Gehirn somit fortlaufend neue Sinnesdaten in kohärente Wahrnehmungen und handlungsleitende Konzepte verwandeln muß, bleibt die Sehwelt für die Wahrnehmung relativ stabil. Dieses Zusammenbinden des Inputs verschiedener Sinnesorgane im Bewusstsein wird in neueren Theorien über das Bewusstsein als „binding“ bezeichnet. Wenn ich beispielsweise um einen Affen herumtanze, verändert sich mein Gesichtsfeld permanent, sowohl durch meine als auch durch des Affen Bewegungen, und doch sehe ich immer denselben Affen. "Würden wir ein ´Bild ´auf der Netzhaut ´sehen´, wäre unsere Sehwelt in jeder Sekunde anders, sie wäre einmal dieses Objekt, einmal jenes, manchmal wäre sie verwischt, weil wir unsere Augen bewegen, manchmal dunkel, weil wir blinzeln. Wir müssen also aus dem ausgewählten Input ein persönliches Bewußtsein konstruieren und auf diese Weise aus dem reichen und ständig wechselnden Informations-fluß, der unsere Rezeptoren erreicht, eine gewisse Stabilität der Be-wußt-heit erlangen." (Ornstein 1976: 39).
Solche stabilitäts-erzeugenden Selektionsvorgänge sind einerseits nützlich, sinnvoll und notwendig, wirken aber andererseits reduzierend und können dadurch auf die Aufnahme und Verarbeitung "neuer" - möglicherweise ebenso sinnvoller - Informationen hemmen. Als Beispiel für diese ausgrenzende Funktion der Auswahlmechanismen nennt Ornstein ein Experiment, daß 1949 von Bruner und Postman durchgeführt wurde. Sie zeigten Versuchspersonen mittels eines speziellen Projektors kurz hintereinander aufleuchtende Spielkarten, unter denen sich auch "anormale" Spielkarten, wie beispielsweise ein ROTES Pik-As und eine SCHWARZE Herz-Vier befanden, und baten die Versuchsteilnehmer, die Karten richtig zu benennen. Dabei zeigte sich, daß die meisten Teilnehmer die veränderten Karten nicht korrekt wahrnahmen, sondern sie vielmehr "korrigierten", so dass statt des faktischen ROTEN Pik-As ein gewöhnlich gestaltetes Herz-As konstruierten. Wurden sie allerdings in einer anderen Anordnung das Experiments darauf aufmerksam gemacht, daß „Herzen zwar gewöhnlich rot seien, daß sich aber daraus nicht folgern lasse, daß sie immer rot seien", konnten einige Teilnehmer schnell die Anzahl der Täuschungen reduzieren und erkennen, was ihnen vorgelegt wurde.
Ein ähnlich angelegtes Experiment etablierte die Arbeitsgruppe um den Psychiatrieprofessor H.M. Emrich (Hannover) mit dem sogenannten Hohlmaskenparadigma, bei welchem den Versuchspersonen eine menschliche Gesichtsmaske per Computerschirm präsentiert wird, die mit der Abbildung einer identischen Hohlmaske abwechselt. Diese sieht bei entsprechender Beleuchtung der gewöhnlichen Maske so täuschend ähnlich, daß die Wahrnehmung quasi überlistet wird und die Probanden angeben, dass sie – wie oben im Falle des ROTEN Pik-AS – eine ganz gewöhnlich aussehende Maske vor sich haben. Irritiert man nun das normale Funktionieren des Wahrnehmungssystems indem man die Probanden verschiedenen besonderen Bedingungen (Schlafentzug, Cannabiskonsum etc.) aussetzt, kommt es in vielen Fällen dazu, dass die Hohlmasken als solche erkannt werden, da das Wahrnehmungssystem gewisse Automatismen nicht mehr durchführen kann.
Diese Experimente belegen, daß große Teile unserer Vorannahmen wahrnehmungsbestimmenden Charakter haben, aber durchaus - in Fall der Spielkarten durch einen einfachen Hinweis - aufgehoben werden können.
Aufgrund dieser experimentellen Ergebnisse ist davon auszugehen, daß unser "gewöhnliches" Alltagsbewußtsein nur eine kleine Menge stark ausgewählter Informationen enthält, die dann einem Konglomerat vorgefertigter Annahmen nach Plausibilitätskriterien plausibel zugeordnet werden. Eine Schlussfolgerung daraus wäre, daß wir vorwiegend das wahrnehmen, was wir wahrzunehmen erwarten.

3. Automatisierungsprozesse und Wahrnehmungsbeschränkung
Demnach ist unser "gewöhnliches" Bewußtsein gekennzeichnet durch Auto-matisierungsprozesse, mit denen wir uns schnell an Dinge, Abläufe, Prozesse aber auch Menschen anzupassen in der Lage sind (Stichwort: „Gewohnheiten“). Wenn wir beispielsweise bestimmte Strecken mit dem Auto zurücklegen, haben wir diese oft derartig "verinnerlicht", daß die Reaktionen beim Autofahren völlig automatisiert ablaufen. Ebenso verhält es sich mit der gerade aufgezogenen Uhr, die anfänglich bestechend nervend tickt und deren Tickerei nach wenigen Minuten in der unbewußten Wahrnehmung verschwindet. Sobald das Ticken sich allerdings verändert oder ausbleibt, gelangt es wieder in die bewußte Wahrnehmung.
Der Neurophysiologe Karl Pribram nannte dieses Phänomen den „Bowery-El-Effekt“. Der Effekt ist benannt nach einer New Yorker S-Bahnlinie, auf der jeden Abend zur selben Zeit ein sehr lauter Zug fuhr. Als die Linie stillgelegt wurde, riefen (zur selben Zeit als früher der Zug verkehrte), viele besorgte Bürger bei der Polizei an, weil sie meinten, Geräusche von Einbrechern zu hören. Die Leute hörten allerdings keine Einbrecher, sondern das Fehlen der Zuggeräusche. Sie wurden sozusagen durch einen Entautomatisierung-sprozess auf die Geräusche, die sonst immer vorhanden waren, erneut aufmerksam.
Aus überlebenstechnischen Gründen trägt diese stabiliserende Funktion des Bewußtseins dazu bei, daß wir uns mit kontinuierlichen Reizen nicht weiter beschäftigen, um damit Platz zu haben für die Wahrnehmung neuer oder auch lebensbedrohlicher Reize. So sind die Zellen von Sehrinde und Netzhaut in ihren ersten Verarbeitungsschritten darauf spezialisiert, Veränderungen im Input zu entdecken und ständig gleichbleibende zu ignorieren.
Diese Automatisierungsprozesse lassen darauf schließen, daß wir uns Modelle der "äußeren" Welt erschaffen und die eingehenden Informationen daran einordnend auf ihre Plausibilität prüfen. Erst wenn der Informationsgehalt in einem groben Widerspruch zum konstruierten Weltmodell steht, wird das erstellte Modell bewußt und kann dann revidiert werden. Die Toleranzgrenze dazu ist allerdings - so nimmt Ornstein an - ausgesprochen groß. Das bedeutet, daß die Modelle, die wir in unserem Bewußtsein erstellt haben, umfangreiche Wahrnehmungserwartungen produzieren: Wir erwarten etwa, daß ein Auto ein bestimmtes Geräusch von sich gibt oder das ein Mensch sich auf eine bestimmte Art äußert; und die meisten Geschehnisse folgen auch diesen Vorannahmen.
Stabilitätserzeugende und –erhaltende Annahmen bzw. Modelle über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wirken also wahrnehmungsbildend und sind nicht nur durch die Funktionstätigkeit unserer Sinnessysteme, sondern auch durch individuell-biographische und sozio-kulturelle Faktoren bestimmt, die zudem noch durch die jeweilige Bedürfnislage des Individuums verändert werden. Individuell-biographische Faktoren sind etwa familiärer Background, Ausbildung, individuelle Interessen, gesellschaftlicher Status und dessen Bewertung. Sozio-kulturelle Faktoren sind beispielsweise stillschweigende unbewußte Übereinkünfte, die in einem spezifischen Kulturkreis "regieren". Gerade die Bindung an einen Kulturkreis, die mit dem gemeinsamen Gebrauch einer Sprache einhergeht, die wiederum nur bestimmte eingegrenzte Ausdrucks-möglichkeiten erlaubt, trägt dazu bei, daß auch nur bestimmte Erfahrungen, die im Rahmen dieser benutzten Sprache benennbar sind, als solche erkannt und artikuliert werden können. Zudem unterliegt die individuelle Wahrnehmung Schwankungen, die von den aktuellen Stimmungen und Bedürfnissen beeinflußt werden. Kurz und bündig beschreibt diesen Umstand der sufische Dichter Jalludin Rumi: „Wie ein Stück Brot aussieht, hängt davon ab, ob man Hunger hat oder nicht" (Shah 1976: 144). Wie ich bestimmte Situationen oder Dinge wahrnehme, hängt demnach wesentlich von meiner jeweiligen Stimmungs- und Bedürfnislage ab.

4. Gewohnheit, Selbstvergessenheit und Existenz
Unser persönliches Bewußtsein ist das Ergebnis komplexer konstruktiver Leistungen. Das, was in unsere bewußte Wahrnehmung dringt, ist nur ein spärliches Rinnsal dessen, was unsere Sinnesorgane tatsächlich aufnehmen. An diesem Rinnsal vorselektierter Informationen werden noch diverse zusätzliche subjektive „Anreicherungen“ vollzogen, welche von unseren aktuellen Stimmungen und Bedürfnislagen wie auch unseren vorgefassten Modellvorstellungen über die Wirklichkeit bestimmt werden.
Ferner unterliegt das "gewöhnliche" Bewußtsein Automatisierungs-prozessen, die die Wahrnehmung von stabilen sich wiederholenden Reizen aus dem Bewusstsein fernhalten, da unser Wahrnehmungsapparat aus überlebens-technischen Gründen primär auf die Wahrnehmung von Veränderungen aus-gerichtet ist. Je stabiler ein Reiz ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß er ohne besondere Anstrengung (gelenkte Aufmerksamkeit) in die bewußte Wahrnehmung gelangt.
Einer der Gründe, warum wir uns selbst vergessen, also vergessen daß wir da sind, daß wir „existieren“, ist in jenem Gewöhnungsprozeß zu finden. Unsere kontinuierliches Existieren in einem Rahmen von Gewohnheiten vermittelt uns unsere „Identität“. Denn die Grundlage und Voraussetzung bewußten Seins, vor der alle Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle projektionsartig in einem ununterbrochenen Strom ablaufen, ist quasi der sicherste, der stabilste „Reiz" überhaupt. William James spricht in diesem Zusammenhang vom „Bewußtseinsstrom". Für ihn ist das Bewußtsein „nichts Gegliedertes, es strömt“. „Wenn wir davon sprechen, wollen wir es den Gedankenstrom, den Bewußtseinsstrom oder den Strom subjektiven Lebens nennen" (James 1950: 239). Das aber, woran wir uns gewöhnt haben, wird aus der bewußten Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet. Überspitzt formuliert könnte man also sagen: Wir haben uns derartig an unsere Existenz gewöhnt, daß uns gar nicht mehr auffällt, daß wir existieren. Ferner ist es aus oben genannten überlebenstechnischen Gründen nicht not-wendig, uns unserer Existenz zu erinnern oder uns ihrer gewahr zu sein, denn wir überleben auch, ohne uns darüber bewußt zu sein. Eine alte Sufi-Geschichte beschreibt diesen Umstand sehr elegant: "Fische, die wissen wollten, was Wasser sei, gingen zu einem weisen Fisch. Er sagte ihnen, daß sie sich mitten darin befänden, und doch glaubten sie immer noch, durstig zu sein" (Shah 1976: 284).
Daraus kann man schließen, daß die Wahrnehmung unseren Existierens eine besonders bewußte Ausrichtung/Schulung der Aufmerksamkeit erfordert.
Falls es irgendetwas gibt, was beständig da ist - um uns herum und in uns - dann fällt es uns aufgrund der üblichen Funktionsweise unseres Bewußtsein äußerst schwer, es überhaupt wahrzunehmen. Außerdem sind die Vorstellungen, die wir über die Beschaffenheit der Wirk-lichkeit haben, im allgemeinen sehr stabil. Es ist wahrscheinlich, daß wir viele Vorstellungen, denen wir unsere Wahrnehmungen zuordnen, allein deshalb schwierig zu identifizieren sind, weil sie sehr allgemein und umfassend sind; so dass sie uns uns kaum als "bloße Vorstellungen" bewußt werden können. Um eine Vorstellung revidieren zu können, muß sie allerdings als solche erst einmal identifiziert werden, was - wie gesagt - besonders schwierig ist, wenn sie etwa als allgemeine Übereinkunft von allen Menschen eines bestimmten Kulturkreises geteilt wird.

Literatur
Huxley, A: Die Pforten der Wahrnehmung. München/Zürich 1981.
James, W: The Principles of Psychology. New York 1950.
Ornstein, R: Die Psychologie des Bewusstseins. Frankfurt/Main 1976.
Shah, I: Die Sufis. Botschaft der Derwische - Weisheit der Magier. Köln/München 1976.

 

 

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