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Konstitutive Elemente des Schamanentums
Eliade (3) nannte den Schamanen den "Meister der Ekstase". Der
Schamane ist ein Bewußtseinskundiger, der sich selbst induziert
aus dem Bereich des Alltagsbewußtseins in außergewöhnliche
Bewußtseinszustände und damit in die Anderwelt begeben kann.
Damit wird er erst zu seiner Mittlerfunktion befähigt. Der Schamane
stellt die Beziehungen zwischen der sichtbaren Welt des Alltagsbewußtseins
und der unsichtbaren transintelligiblen Kräftewelt her. Damit steuert
der Schamane die Beziehungen zwischen der menschlichen und außermenschlichen,
der sozialen und der asozialen Wirkbereiche. Er ordnet das Verhältnis
zwischen der Menschenwelt, der Welt der Tiere, Pflanzen, Steine, der Erde
und der Welt der transzendenten Kräfte, der Geister. Durch Berufung
und Initiation ist er ein Eingeweihter, ein Mystes, ein Kundiger und ein
wirkungsmächtiger Künder und Vermittler der den Menschen im
Alltagsbewußtsein unzugänglichen, außermenschlichen,
übernatürlichen Kräfte.
Unter den zahlreichen Aufgaben des Schamanen ist das Heilen von Krankheiten
eine seiner vornehmsten. Als spiritistischer (das heißt mit Geistern
umgehender) Heiler wirkt der Schamane neben anderen Trägern von kurativen
Funktionen, neben dem Kräuterkundigen, dem Knochenspezialisten, den
verschiedenen Organspezialisten, neben der Hebamme. Der Schamane vermittelt
nicht ichhaft, sondern medial immaterielles, nicht technisches, "geistiges"
Heilen. Die Voraussetzung des Heilens ist die Diagnose. Der Schamane hat
im besonderen Bewußtseinszustand den diagnostischen Durchblick in
den Leib des kranken Menschen. Er "weiß" dann unmittelbar,
was der Kern der Erkrankung ist. Im besonderen Bewußtseinszustand
der Ekstase geschieht der diagnostische Prozeß: das Erkennen der
Krankheit und ihrer Ursachen als Voraussetzung für das Finden der
rechten therapeutischen Maßnahmen. Es sind zwei hauptsächliche
Krankheitsdeutungen des Schamanen zu unterscheiden:
Die meisten physischen Beschwerden können durch das Eindringen böser
Geister erklärt werden. Sie zu erkennen und ihre Macht einzuschätzen,
ist die Vorbedingung für ihre Austreibung, Bannung. Gleichzeitig
hat der Schamane festzustellen, was seinen Patienten so schwächte,
daß böse Geister eindringen konnten: Sünde durch eine
Tabuverletzung oder schwarze Magie durch übelwollende Nachbarn, durch
schwarze Schamanen, durch Hexer und Zauberer.
Krankheiten mit Bewußtseinsstörungen, besonders Bewußtseinsverlust,
werden meist als Seelenverlust gedeutet: die Seele wurde geraubt, entführt.
Dann muß der Schamane ihren Aufenthaltsort in der Anderwelt feststellen
und sie zurückholen. Dazu unternimmt er in der Ekstase die Reise
in diese Anderwelten.
Die schamanischen Heilmaßnahmen sind vielfältig, sie sind im
wahrsten Sinne psychophysisch. Berührung, Extraktion, Massage, Saugen,
magische Chirurgie dienen der Entfernung der materialisierten, aber ursprünglich
spirituellen Krankheit. Apotropäisches Bespeien, Anhauchen, beschwörende
Rufe und bannende Gesänge, Erzählungen von der Reise und ihre
dramatische Ausgestaltung haben eine rekonstruktive Wirkung. Das ganze
Heilritual, das Geborgenheit, Führung, Sichanvertrauen vermittelt,
kann sich über Stunden und Tage erstrecken. Es wird in Begleitung
von Angehörigen vollzogen, vielfach auch der ganzen Gemeinschaft.
Dadurch entsteht ein erheblicher gegenseitiger Steigerungsprozeß
der psychophysischen, emotional affektiven und vegetativen Wirkungen.
Neben dem Heilen hat der Schamane noch viele andere Aufgaben. Er induziert
die Konzeption bei der Begattung, begleitet komplizierte Geburten und
Wochenbett. Er ist gegenwärtig bei den Initiationsriten und beim
Sterben. Dem Schamanen obliegt die Sorge für die Verstorbenen, für
die Geister der Ahnen.
Der Schamane ist Opferpriester, der die Geister besänftigt, günstig
stimmt, abwehrt. Er ist der Psychopompos, welcher die Seele geleitet,
verlorene Seelen zurückholt. Als Thanatopompos begleitet er die Seelen
der Verstorbenen in ihren neuen Aufenthaltsbereich.
In Not und Krieg ist der Schamane Berater.
Der Schamane ist Lehrer und Wahrer der Kosmologie, der Religion, der Mythologie.
In jeder Sitzung erneuert er mit der spürbaren Präsenz der Geister
die Religion seines Volkes.
Er ermöglicht die Einbettung des Menschen in seine natürliche
Umwelt mit ihren Gefahren. Er sorgt für den Erfolg des Sammelns,
des Jagens, des Fischens, für das Gedeihen der Ernte auf den Feldern
und Äckern. Er ruft befruchtenden Regen und bannt gefährliche
Unwetter und Naturkatastrophen. Er hat Einfluß auf die Fruchtbarkeit
von Wild und Haustieren.
Durch seine übernatürliche Begabung kann er Verlorenes suchen:
Gegenstände, verlaufene Tiere, verirrte Menschen. Er sieht in Vergangenheit
und Zukunft, er deutet Träume und Vorzeichen anderer Art. Durch den
Einsatz des Wortes, des Gesangs, der Erzählung, der dramatischen
Darstellung ist der Schamane Sänger, Musiker, Dichter. In der Herstellung
seiner Ausrüstung ist er Handwerker, der um die spirituell-numinose
Bedeutung alles bloß scheinbar Materiellen weiß. In der Eintragung
der bedeutungsvollen Zeichen und Gegenstände ist er bildender Künstler
(4). |
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Berufung oder Wahl
Zum Schamanen kann eine Frau oder ein Mann irgendwann im Leben spontan
berufen werden, sogar gegen den eigenen Willen. Manchmal wird diese Aufgabe
auch aktiv gesucht. Oder die Familie, der Stamm trägt den Wunsch
an ein Mitglied heran, es möge sich für eine solche Funktion
bereit finden. Auch können ältere Schamanen, die ihre Kraft
schwinden fühlen, ein Mitglied ihrer Gruppe als Nachfolger erwählen.
Manchmal sind es besondere Vorzeichen in der Schwangerschaft der Mutter
und bei der Geburt, durch welche die Berufung angezeigt wird. Bei anderen
sind es Träume und Visionen in spontan auftretenden besonderen Bewußtseinszuständen.
Häufig sind es besondere Krisen, Leiden, Nöte, Krankheiten,
welche den zum Schamanen berufenen Menschen auf diesen Weg zwingen. Frauen
können oft spät, nach der Menopause, Schamaninnen werden. |
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Einweihung, Initiation
In der Einweihung erfolgt das Eigentliche und Wesentliche der schamanischen
Befähigung: die Übertragung der Kraft. Diese Kraft, diese Macht
ermöglicht es dem Schamanen, Diener der außermenschlichen,
übernatürlichen Mächte zu sein und gleichzeitig auch als
menschlicher Vertreter der Sozialgruppe wirkmächtig diesen außermenschlichen
Kräften gegenüberzutreten. Die "Possession" des Schamanen
hat eine doppelte Bedeutung: Aktiv-transitiv bedeutet sie Macht. Der Schamane
hat Einfluß auf und Gewalt über die Geister, er kann sie beherrschen,
lenken, herbeiholen, bannen. Im passiv-intransitiven Sinn bedeutet Possession,
daß der Schamane mit seinem bewußten ichhaften Willen zurücktritt,
seine Seele auf die Reise schickt, aus dem Körper austritt und diesen
Körper als Wirkstätte von Geister-Kräften zur Verfügung
stellt. Dann ist der Schamane zwar noch in seiner leiblichen Physiognomie
da, ist aber ein anderer geworden: Metamorphose (5), Transsubstantiation
(6). Der Schamane hat dann die Geister impersoniert.
Die Übertragung der Kraft in der Initiation geschieht (wie die Berufung,
von der sie sich nicht immer klar unterscheiden läßt) in Traum
und Visionen, in Naturereignissen (7), in spontanen oder provozierten
Ekstasen oder in der sogenannten Initiationskrankheit. Die sogenannte
Schamanenkrankheit ist als Zuschreibung eurozentrischer Beobachter und
ihrer übereilten Pathologisierungsneigung erkannt worden (8). Die
Initiationskrankheit folgt bei aller Vielfalt der äußeren Erscheinung
einem Grundmuster von Zerstückelung und Wiederherstellung, von Untergang
und Selbstheilung. Darin ist das Prinzip von Untergang als Voraussetzung
der Erneuerung und Wandlung. Es findet sich in verschiedensten Grenzsituationen,
in Initiation und Krise, in toxischen und reaktiven und auch in sogenannten
schizophrenen Desintegrationszuständen. Die initiale "Krankheit"
ist nicht überall bekannt, aber wo sie vorkommt, wird sie als besondere
Krankheit unterschieden. Die Symptomaufzählung allein genügt
für eine Differenzierung nicht.
Solche Krankheitszustände können sich über Jahre erstrecken.
Der Beistand anderer Schamanen und das eigene Schamanisieren sind wichtig
für das Bestehen dieser Krise. Fehlen sie, so droht das Abgleiten
in eine "gewöhnliche" Krankheit. Wenn der Initiant die
sogenannte Schamanenkrankheit besteht, von der Bewußtseinsreise
in die Anderwelten zurückkehrt in die Alltagswelt seiner Gemeinschaft,
so ist er ein Gewandelter, er besitzt Macht über die Geisterwelt
oder kann sich auch als Wirkstätte hilfreicher Geister zur Verfügung
stellen. Er hat in der Wiederherstellung "neue Augen" eingesetzt
erhalten (9). Er vermag mehr und anders zu sehen als gewöhnliche
Menschen. |
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Lehre
Nach seiner Wahl oder Berufung und nach der Übertragung der Kraft
in der Initiation kommt die oft jahrelange Lehrzeit bei einem älteren
Schamanen. In dieser Lehrzeit lernt der neue Schamane die Selbstinduktion
verschiedener Bewußtseinszustände, das Sich-Hineinversetzen
in die Ekstase und die Rückkehr aus dem veränderten Bewußtseinszustand.
Er lernt den Umgang mit den Hilfsmitteln zum Schamanisieren, seinen Berufsinstrumenten,
seiner Ausrüstung. Er lernt Mythologie, Kosmologie, Anthropologie,
die Seelenlehre (10), die Geschichte, die Tradition und Ethik seines Volkes.
Er wird zum Geschichts- und Geschichtenerzähler, zum Epiker, zum
Lehrer, Berater, geistlichen Führer seines Volkes. |
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Die besonderen Bewußtseinszustände
Der besondere Bewußtseinszustand des Schamanen wird als Trance,
Ekstase, Possession, auch als dissoziierter Bewußtseinszustand bezeichnet
(11). Besonders die Bezeichnung "dissoziierter Zustand" weist
auf die wichtige Beobachtung hin, daß Realitätsbewußtsein
und Selbstkontrolle teilweise auch in der Ekstase erhalten sind, daß
der Schamane als "Meister der Ekstase" im Sinne von Eliade wechseln
kann zwischen verschiedenen Bewußtseinszuständen.
Die moderne Bewußtseinsforschung (12) hilft, die Techniken der Induktion
von besonderen Bewußtseinszuständen durch das Zusammenwirken
von pharmakologischen und nichtpharmakologischen Induktionsmethoden zu
ordnen. Von den Pharmaka sind es vor allem die verschiedenen Halluzinogene,
bei deren Entdeckung, Gewinnung, Zubereitung und Anwendung die Menschheit
bedeutende Kreativität bewiesen hat. Im asiatischen Raum spielt auch
Alkohol eine Rolle, im südamerikanischen Raum grüner Tabaksaft.
Zu den nichtpharmakologischen Methoden der Induktion von veränderten
Bewußtseinszuständen gehören Bewegung und Gesang, rhythmisch
und exzitatorisch eingesetzt. Dazu kommen Atemtechniken, vor allem Überatmung,
Fumigation, Fasten, körperliche Erschöpfung, Torturen, andererseits
auch Isolation, Monotonie des Rhythmus in Musik, mit der Trommel und Rassel,
durch Singen und Tanz.
Veränderter Bewußtseinszustand bedeutet Erfahrung einer anderen
Welt außerhalb des Alltagsbewußtseins mit seiner kontinuierlichen
nicht umkehrbaren Zeit und dem dreidimensionalen Weltraum. Die logischen
Gesetze des mittleren Tageswachbewußtseins, das Sichausschließen
von Gegensätzen und die Stabilität von Identitäten gelten
in dieser Anderwelt nicht. Da ist kein stabiles Ich mehr. Selbst die Erfahrungen
der verschiedenen Sinne fließen ineinander, wie auch Wahrnehmung,
innere Schau, Vorstellung, Fühlen, Ahnen, Zukunfts- und Vergangenheitsschau
ineinander übergehen können. In dieser Anderwelt der veränderten
Bewußtseinszustände schließt der Tod das Leben nicht
aus, vorgeburtliche Existenz geht in nachgeburtliche über. Innen
und außen sind nicht mehr geschieden. Gestalten sind vertauschbar
in der ständigen Metamorphose animistischen Kräftespiels. Das
aus der Perspektive des Alltagsbewußtseins historisch Ungleichzeitige
kann dem Menschen im veränderten Wachbewußtsein gleichzeitig
erscheinen. - Solcherart ist die andere Wirklichkeit, erfahren im Außeralltagsbewußtsein.
Die funktionelle Bedeutung der veränderten Bewußtseinszustände
beim Schamanisieren ist klar. Im veränderten Bewußtseinszustand
nämlich ist dem Schamanen das Erkennen (die Diagnose) und das Handeln
(die Therapie) möglich. In dem besonderen Bewußtseinszustand
der Ekstase geschieht auch die wichtige schamanische Reise. In der Ekstase
geht die als vom Leib unabhängig gedachte Seele weg (es ist nur eine
von vielen Seelen), der Leib bleibt anwesend. Die Seele kann entweder
auf Reisen gehen in die Anderwelt, oder der zurückgebliebene entseelte
Leib kann zur Wirkstätte des Schutzgeistes werden. Ist letzteres
der Fall, steht der Leib des Schamanen medial zur Verfügung. Das
sind zwei Hauptvorgänge in der schamanischen Ekstase: die extrakorporierte
Seele geht auf die Reise, um sich der verlorenen Seele des Patienten zu
bemächtigen. Oder der Schamane impersoniert im "entseelten"
Zustand den Schutzgeist und die Hilfsgeister. Es sind mehrere Stufen,
sozusagen Tiefendimensionen der Trance zu unterscheiden (13). Der Schamane
beginnt mit oft stundenlangem Trommeln, Singen, Tanzen, Springen, Anrufen
der Geister und inszeniert dabei imaginäre, verbale und averbale
dramatische Darstellungen des Geschehens auf seiner Seelenreise. Schließlich
erreicht er einen "wilden", ekstatischen, agitierten Höhepunkt
der Trance. Diese kann manchmal mit Zuständen der Bewegungslosigkeit
und Starre enden. Die Tiefe der Trance kann während der Session mehrmals
wechseln. |
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Der Schutzgeist und die Hilfsgeister
Der persönliche Schutzgeist des Schamanen ist sein wichtigster Helfer.
Er wird in der Inititation "gefunden", entdeckt, erworben. Oft
ist es der Geist der schamanischen Vorgänger, deren Funktion der
Initiant zu übernehmen hat. Entsprechend der Kulturstufe der Jäger
und Sammler und der nomadisierenden Tierzüchter tritt der Schutzgeist
häufig als Tier in Erscheinung. Er nimmt die Gestalt der Tiermutter
an. Die Tiermutter des Schamanen zieht diesen auf, verschlingt seine Seele
und gebiert sie wieder als Tier: das ist die Geburt des Schutzgeistes.
Die Tiermutter ist die Verkörperung der schamanischen Kraft. In dieser
totemistischen Verbindung von Tier und Mensch als Einheit ist der Quell
der schamanischen Kraft. Menschliche und tierische Lebewesen bilden eine
Sippe, sind miteinander verwandt, können sich ineinander verwandeln
(14). Hilfsgeister, auch vielfach in Tiergestalt, können je nach
Bedarf vom Schamanen und seinem Schutzgeist zugezogen werden. Sie können
als Sendboten und als Kampfgefährten wirken. |
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Rituale
In der schamanischen Séance wird durch Wort, Gesang, Tanz jeweils
neu improvisiert und inszeniert, was für Erfahrungen die Reise des
Schamanen in die Anderwelt bringt. Der Tanz der Schamanen enthält
zwei Elemente. Zum einen wird in der rhythmischen und exzitatorisch sich
steigernden Bewegung die Selbstinduktion der Ekstase vorbereitet, gleichzeitig
enthält der Tanz in pantomimischer Darstellung imitative Elemente,
z. B. des Vogelfluges, Rittes, Kampfes. In der dramatischen Darstellung
inszeniert der Schamane die Reise, er zeigt die Räume, durch die
die Reise führt, die Gefahren, die Kämpfe, die zu bestehen sind,
schließlich das Ziel der Reise, das Finden, Gewinnen, Mitnehmen,
das Zurückbringen der verlorenen Seele, die Vertreibung übelwollender
Geister, die Befriedung, Versöhnung, Restitution. |
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Ausrüstung des Schamanen
Der Schamane hat meistens eine besondere Ausrüstung. Das wichtigste
davon sind seine Kleidung und seine Trommel (oder ein anderes Instrument
zur Erzeugung rhythmischer Geräusche, z. B. eine Rassel).
Die Tracht stimmt zwar im allgemeinen in der Grundstruktur mit der lokalen
Kleidung überein, kann bei manchen asiatischen und nordamerikanischen
Völkern aber auch transvestitische Elemente aufweisen. Die Kleidungsstücke
müssen aus dem Fell oder Leder besonderer Tiere und mit besonderen
Instrumenten hergestellt werden. Zum Teil werden auch mehrere Kleidungsstücke,
je nach Oberwelt- und Unterweltfahrt benötigt. Die Kleidung kann
mit Farben geometrisch, mit Figuren von Tieren, Sonne, Mond, Sternen bemalt
sein. Sie kann behangen sein mit Glocken, Schellen, Fransen, Metallstücken,
mit Ketten, Masken (Darstellung des Schutzgeistes). An Handschuhen und
Stiefeln läßt die Bemalung ihre Symbolik als Tierbeine erkennen
(15). Auf dem Kopf trägt der Schamane eine besondere Kappe, einen
Helm, ein geweihartiges Metallgebilde, Federn. Die Kleidung des Schamanen
repräsentiert semantisch die Verbindung des Schamanen mit der Geisterwelt.
Zahlreich sind die Instrumente, die der Schamane für seine Tätigkeit
braucht: Schale, Seil, Teile von Tieren, Kerzen und Musikinstrumente (Trommel,
Rassel, Saiteninstrumente, Glocke, Schelle). Manchmal hat er auch noch
Werkzeug für Tieropfer zur Hand.
Das bedeutendste Instrument des Schamanen ist seine Trommel. Sie ist das
Medium seiner Reise. Sie wird zum Reittier, zum Pferd, Vogel, Rentier.
Die Trommel ist Repräsentant des Schutzgeistes und materialisierter
Träger der schamanischen Macht. Die Herstellung und Belebung der
Trommel ist ein bedeutender Abschnitt im Werdegang des Schamanen. Das
Suchen des geeigneten Baumes (oft Birke oder Lärche), das Gewinnen
des Holzes, ohne den Baum dabei zu abzutöten, das Zurichten der Trommelform
(rund, eiförmig, oval), das Bespannen mit dem Fell eines bestimmten
Tieres sind aufwendige heilige Akte. In der Weihe der Trommel gewinnt
diese ihre machtvolle Seele, ihr eigentliches unfaßbares Wesen (16).
Zum Flug in die Anderwelt gehört die räumliche Erhöhung:
ein Pfahl, ein Baum, eine Leiter, eine Plattform können dazu dienlich
sein. |
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Kosmologie, Ethik, Anthropologie
Der Kosmos ist im Ideogramm der Menschen dieser Kultur dreigeteilt: Erdenwelt,
Überwelt und Unterwelt. Der Baum, der Pfahl, auch der Fluß
verbindet als 'axis mundi' die drei Welten. Der sichtbaren Diesseitswelt
ist eine energetisch-animistische transintelligible Welt zugehörig.
Der Schamane kann sie sehen und beeinflußen. Der Mensch ist dem
Ganzen verbunden, ist systematisch eingebunden in das Ganze des Kosmos.
Diese Einbindung bedeutet Eingeordnetsein und Aufgehobensein genauso wie
Verpflichtung oder Rücksichtnahme auf die Geisterwelt. Es ist eine
ökologisch-systemische Ethik. Der Mensch hat darauf zu achten, die
Geister, die Herren der Tiere und Pflanzen, des Flußes, des Sees,
der Berge, des Wetters nicht zu kränken. So hat er z. B. auf der
Jagd oder auf dem Fischfang im Beutegewinn Maß zu halten und hat
dem Herrn der betreffenden Tierart Opfer darzubringen. Die Knochen des
erlegten oder des geopferten Tieres sind sorgsam aufzubewahren. Aus ihnen
konstituiert sich neu das Leben. Die Knochen repräsentieren die Kontinuität
der Sippe des Lebendigen. Im Gegensatz zur kultischen Religiosität
mit ihrer Trennung von Natur und Numen, mit ihrer Vorstellung von einer
organischen chronologischen Kontinuität des Lebens, von der Urzeit
der Schöpfung über die Gegenwart zur Zukunft, gibt es auf dieser
Stufe der magischen Religiosität keine Trennung von Natur-, Mensch-
und Geisterwelt. Das Numinose ist in der ubiquitären Hierophanie
allgegenwärtig. Es gibt hier nicht das Bild vom unwiderruflichen
linearen Zeitablauf des Weltgeschehens. Leben und Wiedergeborenwerden,
Auferstehung, Zerstückelung und Wiederherstellung, Krankheit und
Gesundheit stehen in einem anderen, zyklisch-uroborischen Zusammenhang
als in der Sicht der rationalistisch-aufgeklärten Kultur, in der
das Weltbild des Alltagsbewußtseins dominiert.
Der Körper des Menschen, sein Skelett, enthält die Elemente
der Welt, geschwisterlich allem Lebendigen verbunden und auch in alles
verwandelbar. Seine 'vis vitalis', das was ihn lebendig macht, ist seine
Körperseele. Neben der Körperseele gibt es noch mehrere andere
Seelen. Diese können den Leib verlassen, ohne daß dieser deshalb
absterben muß. Diese "Freiseele" verläßt den
Leib des Schamanen in der Ekstase. Sie ist es, die auf Reisen geht. Die
Freiseele des Schamanen kann sich verwandeln in andere Wesen, meist Tiere.
Bei manchen sibirischen Schamanen beginnt die Lehrzeit schon vorgeburtlich.
Der noch nicht geborene Schamane sieht vom Baum oder Berg aus die Krankheitsgeister
und ihre Wege. Er wird von den schamanischen Vorfahren zerstückelt,
sein Fleisch (der weibliche Anteil) und seine Knochen (der männliche
Anteil und der Garant der Sippenkontinuität) werden an die Krankheitsgeister
verteilt. Der zukünftige Schamane kann nur die Krankheiten heilen,
deren Geister von seinem zerstückelten Körper gegessen haben.
Die Skelettierung setzt die Seele frei, in andere Welten zu gehen. Die
Knochen werden dann wieder zusammengesetzt und mit Fleisch von Verwandten
belebt. Das garantiert die Kontinuität des schamanischen Wissens
um die Macht in der Sippe (17). |
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Soziale Position
Der Schamane wird aufgrund seiner Macht gebraucht, verehrt, aber auch
mit Scheu betrachtet. Er ist eine ambivalente Gestalt, unentbehrlich und
zugleich gefürchtet. Durch seine paranormalen Fähigkeiten ist
er eine marginale Gestalt, anders als die weltliche Zentralfigur des Stammeshäuptlings
und anders als in den Hochreligionen der Priester als religiöser
Funktionsträger. |
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Typen von Schamanen
Die Ethnologie hat zahlreiche lokale Variationen des Schamanen aufgezeigt
(18). Es gibt spontanes und intendiertes, sporadisches und familiäres
Schamanentum. Es gibt große, mächtige und kleine, wenig befähigte
Schamanen. Es gibt weiße Schamanen von hohem karitativem Ethos und
schwarze Schamanen, die Böses wirken. Männer und Frauen können
Schamanen werden. Bei beiden ist Transvestismus und partieller Transsexualismus
bekannt, teils nur während des Schamanisierens, teils als dauerndes
Verhalten (auch Ehe mit Menschen gleichen biologischen Geschlechts) (19) |
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Respekt vor dem echten Schamanen
In der heutigen Welt sind an manchen Orten noch Reste einstigen Schamanentums
nachweisbar. Schamanismus ist ein Komplex bestimmter konstitutiver Elemente,
ein Syndrom, dessen Komponenten in verschiedenem kulturellen und religiösen
Kontext auftauchen können (20).
Die Achtung vor dem Funktionsträger Schamane, welcher
sogar in der heutigen, globalisierten, multikulturellen, kreolisierten
Welt noch überlebt und nach den Bedürfnissen seiner Sozietät
wirkt (21), sollte uns bewahren vor den Verführungen der Verfälschung
und des Mißbrauchs. Die Idealisierung des Schamanen (oft die Vorstufe
zur plakativ-werbeträchtigen Selbstattribution durch postmoderne
und New-Age-Heiler oder zum touristischen Werbegebrauch) ist ebenso verfehlt
wie die Entwertung als primitiv, archaisch oder gar die Pathologisierung
des Schamanentums, besonders des Weges zum Schamanen.
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Literatur
1) Findeisen, H. & Gehrts, H.: Die Schamanen.
2. Aufl. Köln 1983, S. 13.
2) Lewis, I. M.: What is a Shaman? In: Hoppál, M.(Ed.). Shamanism
in Eurasia. Göttingen 1984, S. 5.
3) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.
1975, S. 14.
4) Lommel, A.: Schamanen und Medizinmänner. München 1965.
5) Califano, M.: El chamanismo mataco. In: Scripta Ethnologica 3 (1975):
7-60.
6) Larraya, F. P.: Lo irracionál en la cultura. Buenos Aires 1982,
Vol. II, p. 312.
7) Baer, G.. Ein besonderes Merkmal des südamerikanischen Schamanen.
In: Zeitschrift für Ethnologie 94 (1969): 284-292.
8) Ackerknecht, E.. Psychopathology, Primitive Medicine and Primitive culture.
In: Bulletin of the History of Medicine 14 (1943): 30-67.
9) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.
1975, S. 519.
10) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism.
In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia.
Budapest 1978, 27-58.
11) Lewis, I. M.: Ecstatic Religion. Harmondsworth 1971, p. 18.
12) Dittrich, A. & Scharfetter, C. (Hrsg.): Ethnopsychotherapie. Stuttgart
1987; Price-Williams, D.: Shamanism and altered states of consciousness.
In: Anthropology of Consciousness 5 (1994): 1-15.
13) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism.
In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia.
Budapest 1978, 27-58.
14) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien.
2. Aufl. Berlin 1987, S. 45-78.
15) Graceva, G. N.: A Nganasan Shaman Costume. In: Diószegi, V. &
Hoppál, M. (eds.). Shamanism in Siberia. Budapest 1978, S. 315.
16) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien.
2. Aufl. Berlin 1987, S. 71-88.
17) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien.
2. Aufl. Berlin 1987, S. 27-30.
18) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism.
In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia.
Budapest 1978, p. 54.
19) Findeisen, H. & Gehrts, H.: Die Schamanen. 2. Aufl. Köln 1983,
S. 140; Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.
1975, S. 248; Nioradze, G.: Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern.
Stuttgart 1925, S. 58.
20) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.
1975, S. 360; Halifax, J.: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Bern 1981;
Halifax, J.: Schamanen. Frankfurt/M. 1983; Lommel, A.: Schamanen und Medizinmänner.
München 1965; Nicholson, S. (ed.): Shamanism. Wheaton, ILL. 1987.
21) Nicholson, S. (ed.): Shamanism. Wheaton, ILL 1987. ALS
FUSSNOTE: Dieser Artikel enthält Abschnitte aus meinem Aufsatz: "Der
Schamane - das Urbild des Heilenden". (In: K. Hauck (Hrsg.). 1992.
Der historische Horizont der Götterbild-Amulette aus der Übergangsepoche
von der Spätantike zum Frühmittelalter. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht,
422-432.) |
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